Erster Tag in Changsha

Ein großes Gewitter mit Blitz und Donner lässt mich morgens um vier Uhr kaum einschlafen. Ich quäle mich nach 3 ½ Stunden Schlaf hoch, um 8.00 Uhr. Suwen wird es schlimmer erwischt haben, sie war ja nochmal am Flughafen. Ich wecke unsere Leute zum Frühstück. Eigentlich hätten alle auch liegen und bis zum Mittagessen durchschlafen können, aber wir wussten nicht, ob vielleicht ein Offizieller uns erwartet.
Das Frühstück besteht aus einem Buffet, Nudeln oder Bratreis, dazu noch verschiedene Salate und Gemüsen oder kleinere Zutaten, die wir eher bei eine Abendessen erwarten würden, dazu noch die typischen chinesischen Dampfbrötchen, die nach nichts schmecken und eher als Sättigungsbeilage geeignet sind, sowie Kekse und helles Weißbrot. Als Getränke stehen zur Auswahl künstlich-süße Fanta, süßer Milchkaffee, heißes Zitronenwasser und heißer Tee. Wir finden etwas und setzen uns in die typisch chinesisch-wuchtigen tief gelegenen Ledersessel und Lederbänke an normal-hohen Tischen, die nicht so recht zu eine Frühstück passen wollen. Der Raum hat eher Lounge-Charakter. Wir essen, die Spieler gehen danach gleich wieder ins Bett. Plötzlich steht Thomas Bienert am Tisch. Thomas war auch vor vier Jahren schon auf unserer China-Reise dabei, zusammen mit Tochter Jennifer. Diesmal sind beide auch dabei, dazu noch Kristin, die zweite Tochter von Thomas. Die beiden Mädchen sind jetzt ca. 19 und 17 Jahre alt, alle drei Spielen in Niedersachsen.
Wir hatten gestern schon erfahren, dass wir unsere Zimmer nur für eine Nacht behalten können. Wir sollen heute Mittag umziehen, für eine Nacht jeweils in Einzelzimmer, dann wieder in andere Doppelzimmer. Alle packen nur das nötigste aus und sind auf einen Wechsel zur Mittagszeit eingestimmt.
Ich darf mich im Gegensatz zu den Spielern nicht hinlegen. Um 10.00 Uhr ist Planungsbesprechung. Wir sind in der Frühstückslounge. Der Mann, der uns gestern am Flughafen abgeholt hat, ist dabei, Suwen und ich setzen uns dazu. Es ist Mr. Fan. Mr. Fan kann ganz gut Englisch, spricht aber immer etwas leise und nuschelig, so dass ich ihn nicht so gut verstehen kann. Er ist ein höherer Beamter aus Changsha, von der Ausländerbehörde, meint Suwen. Er hat wohl Order bekommen, sich um uns zu kümmern, dass alles von der Organisation gut läuft. Bei uns würde so ein Service wohl nur ausgewählten und wichtigen Gästen zuteil werden. Er bestellt für uns Tee und Kaffee, zieht einen Plan aus der Tasche in chinesischen Schriftzeichen mit den Tagen unserer Anwesenheit und den geplanten Inhalten als Vorschlag, Training oder Freizeit. Wir verständigen uns über Anfang und Ende der Trainingseinheiten. Sonntags ist Ruhetag fürs Training, auch mittwochs wollen wir nur halb trainieren, ansonsten täglich zwei Einheiten zu je 2 ½ Stunden mit Option für mehr.
Dann bittet er uns zur Hallenbesichtigung. Wir steigen in sein Auto, einen Mittelklasse-VW. Die Typenbezeichnungen lauten hier anders als in Deutschland. Die Sitze sind in Leder, die Klimaanlage sehr kalt gestellt. Wir fahren zwei Minuten durch mittelstarken Regen und halten auf dem Parkplatz vor einem monumentalen Gebäude, der Eingang mit einer imposanten breiten Treppe mit ca. 30 Stufen, alles in hellen Stein. Es ist der Eingang zu einem Stadion, der örtlichen Basketballarena. Dort werden wir einem Stadion-Chinesen vorgestellt. Er entpuppt sich später als unser Materialchef, der für die Beschaffung der Lehrgangsmaterialien zuständig ist. Er kann kein Englisch.
Hinter dem Foyer tut sich eine Basketballsporthalle auf mit ca. 2000 Plätzen. Wir biegen ab, laufen wieder zwei Etagen runter und gelangen in zwei Nebenhallen im Gebäude, eine wird für Basketball genutzt, die andere ist mit 4 Reihen zu je 4 TT-Tischen belegt. Es sind blaue Tische, alle ausgerichtet und mit Banden abgetrennt. Die Scheinwerfer kennen wir schon aus Chengdu. Die ca. 10 Meter hohe Halle hat einen Parkettboden, der sehr rutschfest ist. An den Seiten stehen kleine Bänke. Es riecht etwas feucht in der Halle, aber man gewöhnt sich schnell an den Geruch. Insgesamt sieht es sehr großzügig aus. Wir sind sehr zufrieden.
Der Materialchef meint, dass ein neuer roter Boden für uns verlegt werden soll. Er sei gelenkschonender als der Parkettboden.. Suwen und ich wundern uns, lehnen die Materialbeschaffung als unnötig ab, der Parkettfußboden ist so rutschfest wie in Hamburg kein Hallenboden. Wir halten es für überzogen. Wir sind ja keine Nationalspieler, die nur auf rotem Gerflor-Boden spielen wollen, nur eine Hobbytruppe aus Hamburg. Dann überrascht der Materialchef uns mit der Ankündigung, bis morgen eine Ballwurfmaschine bereit stellen zu wollen. Dann klären wir noch, dass wir mit weißen Bällen spielen, nicht mit gelben Bällen. Und wir dürfen die Größe der Schalen bestimmen, die für den Lehrgang gekauft werden sollen. Der Materialchef ist kein Tischtennis-Spieler, kann unsere Bedürfnisse nicht richtig einschätzen. Aber es hat offenbar ein großes Budget, um die Materialien beschaffen zu können. Und es besteht offenbar ein politischen Wille, die Sachen auch kurzfristig beschaffen zu wollen. Suwen kann ihm die Ballwurfmaschine ausreden, er soll uns lieber gute Trainingschinesen besorgen.
Dafür ist aber ein anderer zuständig. Nach der Hallenbesichtigung werden wir in ein im Stadiongebäude befindliches Büro gebeten. Suwen und ich sind mit dem Polit-Offizier und dem Materialchef schon zu viert. Das Büro lässt auf einen höheren Rang des Büroinhabers schließen. Es ist ca. 6 * 8 Meter groß und typisch chinesisch eingerichtet, d.h. ein wuchtiger Holzschreibtisch mit Seitenteil, auf dem ein PC und ein Bildschirm steht, davor und dahinter ein Ledersessel. In einer Ecke ist eine Sitzecke mit großvolumigen ledernen Sitzmöbeln, die einen niedrigen Holztisch halb umrahmen. Die Hälfte des Tisches wird von einem Teebereitungssystem eingenommen, das elektrisch betrieben ist vom Einfüllen des Wassers in eine Kanne bis zum Wasserkochen. Dabei sind auch Aufgusskännchen, Abfallkörbchen und Probiertassen, offenbar alles le notwendigen Utensilien, um eine stilgerechte Teezubereitung zu ermöglichen.
Wir nehmen Platz. Kaum dass wir sitzen, serviert uns eine Assistentin Tee in einem großen Pappbecher. Der Stadion-Chef soll uns vorgestellt werden, er ist noch unterwegs. Die anderen unterhalten sich, ich verstehe nichts, aber mache ein interessiertes Gesicht. Nach zehn Minuten erscheinen zwei Männer, einer davon wird mir als Stadion-Chef vorgestellt, der andere jüngere ist wohl sein Fahrer, er schwingt einen Autoschlüssel um den Finger. Der Stadion-Chef befasst sich als erstes mit seinem Teesystem und bereitet eigenhändig Tee zu. Es sieht sehr rituell aus, alle Bewegungen geübt, aber bedächtig. Unser Polit-Chef erklärt mir, dass es sich um ein ganz besonders ausgesuchten Tee handelt mit besonderer Art der Pflückung, sehr teuer. Ich zeige mich geehrt und erfreut und lobe den guten Teegeschmack. Und ich komme mir irgendwie vor wie in Karl May’s „Der Schut“, der im Beduinenzelt mit fremden Menschen erst mal zum Tee eingeladen wird, bevor eine große Sache beginnt.
Es erscheint ein weiterer Mann, der mir als Mr. Zhang vorgestellt wird. Ich schätze ihn auf Ende ca. 45 Jahre, etwas untersetzt. Er ist der Cheftrainer hier. Jetzt sitzen wir schon mit acht Personen im Büro.
Der Stadion-Chef ist wohl zuständig für die Organisation unserer Gegner. Er ist auch kein Tischtennisspieler. Nachdem die Zubereitung des Tees abgeschlossen ist, fragt er wie stark unsere Spieler sind. Ich überlege ob ihm der TTR-Wert etwas nützen würde, beschränke mit dann aber auf den Hinweis, dass einige Spieler schon an norddeutschen Jugendmeisterschaften teilgenommen haben. Ich erfahre, dass drei verschieden starke chinesischem Teams in Planung wären, je nachdem, wie stark unsere Spieler sind. Viel Aufwand auf chinesischer Seite. Wir organisieren noch die Wäsche, die soll über einen Kontakt unseres Polit-Offiziers in privater Arbeit erfolgen und am Abend organisiert werden. Der Polit-Offizier bringt uns zurück zum Hotel, es regnet noch immer. Die Zeit für das Mittagessen haben wir schon überschritten.
Unterdessen stellen unsere Spieler fest, dass ihre Zimmerkarten gesperrt sind. Die Zentrale hat wohl schon den Zimmerwechsel eingegeben, obwohl wir die neuen Zimmer nicht bezogen haben. Suwen sorgt für das Öffnen der Zimmer, damit wir umziehen können. PatrickM kommt zu spät zum Treffpunkt für das Mittagessen, fängt sich gleich von Suwen einen Einlauf ein. Das Mittagessen bekommen wir extern in einem Restaurant in 50 Meter Entfernung, in einem eigenen Nebenraum, der mit zwei großen Tischen nur für uns gedeckt ist.
Wir gehen pünktlich zum ersten Training, Thomas, Jenni und Kristin sind auch dabei. Die 2 min Fahrweg mit dem Auto zur Spielhalle bewältigen wir zu Fuß in zehn Minuten. Die Spieler sind neugierig auf das neue Spiellokal, sind wohl überrascht über die großzügige Anlage, größer als in Chengdu. Es sind nur 5-6 Chinesen in der Halle, vom jungen Mädchen bis zur alten Oma. Es sieht nicht so aus, als wären dies unsere Spielpartner. Wir ziehen uns in der Halle um. Es geht los, diesmal nehmen wir allein Aufstellung, in einer Reihe, wir kennen das ja schon. So etwas sollten wir beim Training auch mal einführen! Der Chef-Trainer spricht ein paar Begrüßungsworte, Suwen übersetzt. Dann schickt er uns zum Einlaufen, Philipp voran, und macht selbst die Übungen vor. Das Einlaufen ist klassisch und ähnelt dem Einlaufen in Chengdu. Ziemlich genau so hatte ich es vor über 30 Jahren in meinem zweiten Tischtennis-Jahr in Grenzau kennen gelernt.
Wir spielen uns untereinander ein. Und dazu noch mit nur einem Ball. Wo sind die Chinesen? Der Chef-Trainer beobachtet unser Einspielen. Es heißt, die Chinesen stecken noch im Stau, kommen etwas später. Wenn sie nach dem Einspielen noch nicht da sind, machen wir halt Balleimertraining. 30 Minuten nach Trainingsbeginn sind die Chinesen noch nicht in Sicht, dafür wird ein riesiger Karton in die Halle gebracht. Es sind Bälle, müssen schätzungsweise rund 3.000 Bälle sein, originalverpackt. Die Chinesen reißen die Tüten auf und füllen sie in die ebenfalls angelieferten rund 20 Schalen. Es scheint alles frisch geliefert worden zu sein.
Wir beginnen mit Balleimertraining. Die Chinesen in der Halle entpuppen sich als Einspieler. Das Mädchen spielt ab und zu mal eine Übung vor, dann verteilen sich drei Deutsche auf die Einspieler. PatrickM und Nils bekommen die Oma ab. Die Oma wird wohl ca. 55 Jahre alt sein und könnte in jeder Seifenoper als die nette Frau von nebenan durchgehen. Am Balleimer wirft sie mit höchster Präzision ein, links, rechts, mitte, mit Über- oder Unterschnitt, schießt Bälle im in China üblichen direkten Einspiel mit unerbittlicher Härte in die Ecken. Ihr Auftreten zeugt von großer Erfahrung. Sie hat früher mal große Erfolge im Tischtennis errungen, sagt Suwen.
Alle hängen sich rein, sind schnell an den Grenzen ihrer Leistungsfähigkeit angelangt. In China endet die Ballkiste, wenn die Schale leer ist, nicht wenn der Spieler meint, nicht mehr zu können. Es wird schnell individuell an den Tischen trainiert, auch mit gewissen Korrekturen durch die Einspieler. Das ist gut. Die Kommunikation geht über Zeichensprache, manchmal unterstützt Suwen, manchmal versuche ich zu erraten, was gemeint ist. Die Waschfrau kommt in die Halle, Suwen vereinbart ein tägliches Abholen und Bringen der Wäsche für 200 Yuan (= 26 EUR) für die gesamte Gruppe. Heute abend soll es beginnen.
Trainingssende, wir gehen nassgeschwitzt ins Hotel, duschen und gehen zum Abendessen wieder in das uns bekannte Restaurant in unser Stammzimmer. Es ist schon der 6. Tag und wir haben noch nicht gewaschen. Heute abend ist noch eine Trainingseinheit. Ich nehme Not-Bestellungen für Unterhosen, T-shirts und Socken auf, nutze die kurze Zeit bis zum Abendtraining zu einem schnellen Einkauf in einem großen Supermarkt in 100 Meter Entfernung. Wir liegen hier sehr angenehm zentral, vieles kann in unmittelbarer Umgebung erreicht werden.
Wir gehen zum Abendtraining. Das Gelände, auf dem die Sporthalle steht, gehört zum Universitätsviertel, einem weitläufigen Areal mit vielen großen Gebäuden, vermutlich für alle Fakultäten, und auch mit einer großen Sportanlage. Wir sind also schön zentral untergebracht, besser als in Chengdu. Unmittelbar neben dem Hotel ist ein 24-Stunden-KFC. Was McDonalds fürs Rindfleisch ist, ist KFC fürs Hühnchen. Wir praktisch, werden sich viele Teilnehmer denken.
Wir machen wieder Ballkiste. Die Bienert-Family macht die zweite Einheit voll mit, das ist bestimmt ein härterer Start als für uns. Ich mache viele Video-Sequenzen von unseren Teilnehmern. Schade, die Oma ist nicht mehr dabei. Aber nass sind am Ende doch alle. Es ist noch immer regnerisch. Wir liegen hier viel näher am Äquator als in Deutschland. Um 21.00 Uhr ist es schon völlig dunkel und wird auch schnell kühl. Wir gehen ins Hotel, nass wie wir sind. Nils wird von einer jungen Frau an der Rezeption angebaggert. „You look like a film star“ startet sie. Und bedeutet Nils ob beide heute Abend gemeinsam gehen wollen. Nils ist überrascht, verweist auf sein junges Alter. und entgeht dem gemeinsamen Date heute abend.
Wir besprechen uns noch. Ich lade zu mir ein, alle anderen Zimmer sind auch nicht größer. Dann ziehen sich alle in ihre Einzelzellen zurück und fallen ziemlich müde ins Bett.
Morgen sollen wir wieder in neue Doppelzimmer umziehen, hoffentlich klappt der Umzug dann leichter. Und die Chinesen kommen. Und morgen erfahrt ihr auch, wer plötzlich verschwunden ist und wer sein Wasser nicht halten kann.

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