Tretbootfahren in Changsha

Wir gehen zum Vormittagstraining, erwarten Ballkistentraining. Wir haben uns vorgenommen, auch einmal den Kreuzschritt zu trainieren, aus der Rückhand umsetzen und dann in die weite Vorhand und wieder zurück. Suwen meint, heute kommt ein ehemaliger Nationaltrainer zu Besuch. Suwen und ich schauen noch beim Fotoladen vorbei wegen der Abzüge für die Bilder als kleines Geschenk für Trainer und Spieler. Nebenan kaufe ich mir noch eine Micro-SD-Karte 16 GB für 9 EUR, die ist zu Hause doppelt so teuer.
Der angekündigte ehemalige Nationaltrainer ist tatsächlich da, ein relativ junger Spieler, so Mitte/Ende Zwanzig, gibt eine kleine Einführung zum Aufschlagtraining und zum Flip, Wechsel zwischen Unterschnitt und ohne Schnitt. Wir machen alle eine Runde Aufschläge mit Rückschlag. Die bekannten Gesichter, der Cheftrainer und die Einspielchinesen einschließlich Oma sind auch wieder da, schauen zu. Auf einmal machen wir drei Stationen. Der Nationaltrainer übernimmt eine Ballkiste, an einigen Tischen ist Aufschlagtraining und an einigen Tischen Wettkämpfe. Der Nationaltrainer spielt sehr präzise ein, kann lange Unterschnittbälle sehr platziert setzen, dazu nur wenige Zentimeter über dem Netz. Suwen meint, er spielt Superliga ausgeglichene Bilanz, das sollte bei uns für die 1. Bundesliga oben locker reichen. Er hätte Lust, mal nach Deutschland zu kommen, für einige Monate. Vielleicht können wir ihn für uns gewinnen.
Ich soll den Übungswechsel unserer Spieler an den drei Stationen organisieren. Es läuft etwas chaotisch ab, der Wechsel klappt natürlich nicht genau, weil die Wettkämpfe unterschiedlich lang dauern. Zwischendurch wird mir vom Cheftrainer ein älterer, etwas gebrechlich wirkenden Mann vorgestellt, den ich zuvor noch nicht in der Halle gesehen habe. Da Suwen nicht da ist, und der Cheftrainer kein Englisch kann, verstehe ich kein Wort, schüttle seine Hand und mache ein freundliches Gesicht. Er bedeutet uns, dass er gern ein Spiel machen möchte. Leo spielt gegen ihn, verliert 0:3. Später stellt mir Suwen den Mann nochmals vor, es ist der Präsident des Tischtennis-Verbands der Provinz Hunan, der uns willkommen heißen will. Er ist 59 Jahre alt, sagt er, fragt nach meinem Alter und stellt fest, dass wir nicht allzu weit auseinander liegen. Ich hoffe, dass ich noch nicht so alt aussehe wie er.
Wir gehen zurück, es ist wieder ein schwül-heißer Tag, so ca. 36°C tagsüber. Direkt nach dem Mittagessen steht der Bus vor der Türe. Leichte Kleidung ist angesagt und Sonnencreme, es geht in eine Parkanlage, ca. 30 Busminuten vom Hotel entfernt in der Stadt.
Im Straßenverkehr wird meist langsam, aber relativ flüssig gefahren, kaum über 30 oder 40 km pro Stunde. Es sind eine Vielzahl europäischen Marken zu sehen, häufig VW, BMW, Mercedes, Porsche, Japaner oder heimische Marken, viele abgedunkelte Scheiben, oft in schwarz, aber keine Cabriolets. Die empfehlen sich doch nicht bei dem oft schwülen und regnerischen Wetter. Ich beobachte, dass viele Fahrer in PKWs sich anschnallen, Taxifahrer ebenfalls, selten die Beifahrer. Das hatte ich vor zwei oder vier Jahren in China noch gar nicht beobachtet. Das Sicherheitsbedürfnis und -verständnis hat sich offenbar deutlich gewandelt.
Wir halten an einem Parkplatz vor einem großen Torbogen, mit Blick auf eine breite, schnurgerade Prachtstraße mit akkurat gelegten hellen Steinplatten, die ca. 500 Meter entfernt mit einem mehrfachen Treppenaufgang auf ein schlossartiges weißes Gebäude zuläuft, umsäumt von gepflegten Grünanlagen. Es wirkt sehr großzügig, fremdländisch, so wie man sich halt Pracht im Garten- und Landschaftsbau vorstellt. „Bloß nicht da hochlaufen“, rufen alle. Wir biegen sofort seitlich ab, kommen in einen Pinienwald, in dem sich gut ausgebaute mit Stein unterlegte Wanderwege schlängeln. Es sind hoch gewachsene Bäume, man kann bequem darunter durchlaufen. So alle zehn Meter sind quadratische Picknicktische aufgestellt, mit vier festen Hockern drum herum, in lockerer Aufstellung in den Wald gesetzt, alle im Schatten. Die Tische sind alle von Chinesen besetzt sind. Sie spielen Brettspiele oder machen ein Familienpicknick, es wirkt sehr idyllisch. Ein leichter Wind macht es sehr angenehm kühl und lädt zum Verweilen ein. Die Grillen verbreiten ab und zu ihre typischen Geräuschschwaden. Manche Chinesen haben eine Hängematte zwischen zwei Bäumen aufgespannt und dösen vor sich hin.
Wir laufen weiter, leicht bergab, Richtung Wasser, hören Musik. O je, eine Achterbahn tut sich auf und einige weitere Fahrgeschäfte. Das wollte ich eigentlich nicht, befürchte schon einen zweiten Heidepark. Aber zum Glück sind die Fahrgeschäfte erstens nicht besonders attraktiv und zweitens muss jede Fahrt einzeln bezahlt werden, mit ca. 4 EUR die Achterbahn wundert es nicht, dass der Zug halbleer durch die Gegend fährt. Keiner von uns hat Interesse, wir laufen weiter am Wasser-Scooter vorbei. Eine kleine Flusslandschaft beherbergt Hunderte von Goldfischen. Man kann Futter kaufen und sich direkt ans befestigte Ufer auf die durchgehende Bank direkt an die Uferböschung setzen und einen wahren Fischwirbel auslösen, wenn man das Futter reinwirft. Ein ca. 7-jähriger Junge will einen Fisch streicheln, beugt sich zu weit vor, und plumpst ins Wasser. Der Vater greift beherzt zu, zieht ihr mit Schwung an seiner Latzhose wieder an Land. Dar Junge steht triefend am Flussrand, aber es gibt kein Geschrei.
Eine Kurve weiter tut sich auf einmal vor uns ein großer See auf. Wir steuern einen Tretboot-Verleih an, mieten uns vier Boote zu je vier Personen. Thomas bleibt an Land. Ich bin mit Suwen, Kristin, Michel und Leo in einem Boot. Zwei müssen immer treten, die anderen können gegenüber zuschauen. Das offene Boot hat ein Dach, es herrscht ein angenehmer Wind. Leo und ich versuchen, die Steuerung zu verstehen, das Treten ist uns schon irgendwie klar. Ich will zunächst nur in die Seemitte, dort am liebsten das Boot treiben lassen. Aber Suwen dirigiert uns ganz hinten unter eine Brücke hindurch, den drei Booten der anderen hinterher. Ich trete tapfer weiter. Michel ist begeistert, er wollte mich schon immer gern treten sehen. Suwen geht nach einem kurzen Stück von Bord, rettet sich ans Ufer zu Thomas. Wir wechseln durch mit Treten. Die Seeenlandschaft lädt ein zur Rundfahrt, es geht vielleicht mit einem Kilometer Durchmesser um eine künstliche Insel herum. Es sieht architektonisch sehr ansprechend aus, vermutlich ist hier ein natürlicher See ausgebaut und angelegt worden. Wir wollen die anderen gern einholen. Gefühlt hat Leo den größten Anteil am Treten, er möchte gern Erster werden. Er kommt richtig ist schwitzen, hat einen roten Kopf und das Wasser läuft ihm in die Hose rein.
Nach einer Stunde landen wir wieder am Bootssteg an. Wir laufen ein Stück weiter, leicht bergauf, in das Wäldchen hinein. Überall sind wieder kleine Ecken mit Tischen oder kleinen tempelartigen Baulichkeiten. Gelegentlich kommt mal ein Bettler vorbei oder jemand hält Waren feil. Eine kleine steinerne Treppe windet sich den Hügel hinauf. Und dann stehen wir plötzlich am Fuße des großen Tempelgebäudes, das wir am Anfang gesehen hatten, die vielen Stufen liegen jetzt unter uns. Es ist eine Art Kriegergedenkstätte, ein monumentales Gebäude, rund 30 Meter hoch. Eigentlich sich alle Bauwerke in China monumental für unsere Verhältnisse. Wir machen ein Foto, verweilen etwas. Auf einmal machen sich einige Jugendliche ans Werk, üben sich im Parcour-Laufen und klettern die 4-5 Meter hohe senkrecht mit in Stein gehauenen Symbolen und Absätzen versehene Mauer bis zum ersten Balkon ohne Seil mit bloßen Händen hoch und runter. Ich hätte gedacht, dass dies in China nicht gern gesehen wird, aber es gab keinen großen Menschenauflauf und schon gar keine Ordnungshüter. Überhaupt sehen wir kaum Polizisten, höchstens mal ein, zwei auf der Straße, mehr für die Verkehrslenkung. Wir flanieren langsam wieder bergab, die Stufen zurück zum Eingang der langen Prachtstraße. Ein Mann mit bloßem Oberkörper sitzt am Rand auf einer Decke, bettelt. Es muss eine schwere Brandverletzung erlitten haben. Sein Kopf weist keine Haare und sein Gesicht kaum Konturen auf, die Haut des Oberkörpers wirken merkwürdig rosa-pigmentarm. Ein Bandansage von einem Rekorder weist in Chinesisch lautstark vermutlich auf sein Schicksal hin.
Auf dem Weg zurück machen wir noch Station bei verschiedenen Textil- und Sportartikelgeschäften. Es gibt nicht Dutzende, er gibt wohl Hunderte hier. Wir gehen in ein großes unscheinbares Gebäude, dahinter tut sich plötzlich eine Art AEZ auf, über mehrere Etagen. Wir gehen hundert Meter weiter, gelangen in eine staubige Halle, und wieder über hundert Meter Reihen von Geschäften. Die Verkäufer schlafen zum Teil in ihren Läden, auf einem Anhänger oder einem verlängerten Stuhl und kommen hoch, wenn jemand den Laden betritt. Wir wollen noch ein Erinnerungstrikot kaufen, mit chinesischer Beschriftung. Baumwolle ist günstig, aber alle entscheiden sich lieber für modisches Funktionsgewebe. Das gibt es nur in den Sportläden. Innerhalb von einer halben Stunde klappern wir drei Sportländen ab, alle 50 Meter voneinander entfernt. Ein Shop hat auch Tischtennisschläger, einige kaufen sich ein Penholder-Holz mit zwei Friendship-Belägen für 13 Euro oder ein schnelles chinesisches Holz.
Wir fahren mit dem Bus zurück, haben Abendessen. Danach wollen wir noch zum Feuerwerk. Das Feuerwerk findet jeden Samstag statt, von der Mandarinen-Insel aus, die wir am letzten Sonntag schon besucht haben. Jetzt wollen wir von der Festlandseite schauen. Eine Verbindung mit dem öffentlichen Bus geht ab Hotel, der private Bus steht uns nicht mehr zur Verfügung. Anscheinend hatten auch noch einige Chinesen diese Idee. Es kommt zwar alle 30 Sekunden ein Bus vorbei mit gefühlt zwanzig verschiedenen Buslinien, aber wir können nur eine Linie nutzen. Und dieser Bus ist proppenvoll. Mit ca. zwanzig Personen können wir uns auch nicht so einfach reinmogeln. Auch der zweite Bus ist voll, wir brechen das Projekt ab, da wir auch nicht mehr rechtzeitig ankommen würden. Stattdessen machen wir noch kleinere Einkäufe in der Gegend.
Unser Hotel ist an einer großen Verkehrsschlagader gelegen, an deren Seiten sich Geschäft an Geschäft reiht. Man kann zu jeder Seite lange laufen und sieht immer wieder neue Geschäfte, mit viel Personal drin, aber wenig Kundschaft. Ich glaube, dass bald jeder Chinese ein Geschäft hat. Michel, Malte, PatrickM und ich gehen abends noch in den Supermarkt. Ich stehe etwas ratlos vor dem Teeregal. Eine Frau spricht mich in Deutsch an, bietet ihre Hilfe an. Sie ist chinesisch-stämmig, wohnt in Schweden und ist hier auf Heimaturlaub. Sie gibt mir Infos über verschiedene Teesorten. Und ich frage mich, woran sich mich gleich als Deutscher erkannt hat.
Mir persönlich ist es recht, dass das Feuerwerk heute ausgefallen ist. Ich kann nicht mehr laufen, habe Kopfschmerzen vom heutigen heißen Tag, gehe mit Dolormin ins Bett und genieße acht Stunden Schlaf am Stück.
Morgen bricht Philipp auf, fliegt weiter nach Thailand. Und wir machen einen Überraschungsausflug.

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