Wir sind alle pünktlich und erstmals ausgeschlafen beim Frühstück. Das Frühstück ist noch immer halb europäisiert. Naja, zur Eingewöhnung ganz gut, in Changsha erwarte ich typischere Kost. Was mir abgeht, ist ein warmes Getränk, Tee oder Kaffee. Die 0,2-l-Milchtüte ist nicht mein Fall. Aber die Tüten gehen dennoch alle weg.
Alle sind gut drauf, gespannt auf den zweiten Trainingstag, keine wesentlichen Beschwerden. Trainingsbeginn wurde kurzfristig auf 8.40 Uhr verschoben. Einige Oberbosse der TT-Schule sollen anwesend sein und wir versuchen, uns nicht zu blamieren.
Das Training verläuft ähnlich wie gestern. Die Chinesen erhalten wieder zuerst eine 2-min-Ansprache, vom Chef-Trainer und vom Vize-Chef, die die Spieler in Reih und Glied stehend auf sich wirken lassen. Wir stellen uns dazu und machen ein artiges Gesicht. Der Tonfall ist moderat, kein Spieler quatscht dazwischen und wir verstehen nur Bahnhof. Später frage ich Suwen, was die beiden gesagt haben. Suwen meint, die Spieler seien geschimpft worden, weil sie gestern nicht ordentlich trainiert hätten.
Von den Ober-Bossen habe ich nicht viel gesehen, nur einen Mann, der an einem Hallen-Schreibtisch sitzt und sich Notizen macht. Ich mache während des Trainings Aufnahmen, versuche mich mit meiner neuen Spiegelreflex, wegen der Hallensituation auch mit Blitzlicht. Der Chef-Trainer kommt plötzlich auf ich zu, zeigt auf den Mann und meine Kamera und redet etwas in Französisch mit „lumen“; ich schließe daraus, dass der Mann sich durch meine gelegentlichen Blitze gestört fühlt und knipse an einer anderen Hallenecke weiter.
Gegen 11.00 Uhr endet das Training, die Hemden sind auch schon recht nass. Die gesamte Trainingsgruppe wird eingeladen, in die Halle 1 zu gehen, das Heiligtum der Anlage. Die Halle 1 ist mit 5 Reihen zu je 6 Tischen aufgestellt, an beiden Längsseiten hohe Tribünen, mit schätzungsweise 800 Sitzplätzen, an einer Stirnseite die chinesische Fahne, an der anderen die olympischen Ringe. Uns wird bedeutet, leise zu sein. Wir schleichen uns rein. Auf der Spielfläche trägt der chinesische Nationalkader ein Turnier aus, rund 40 Aktive, die offenbar eine Rangliste untereinander spielen. Es herrscht Ruhe, nur das Klickern der Bälle ist zu hören. Die meisten Spieler tragen Kameras mit Stativ an ihre Spielfläche, um die Spiele aufzunehmen.
Es sind viele aufputschende Schreie zu hören. Und gespannte Stille drum herum. Es scheint um viel zu gehen. Nach den Spielen sitzen die Spieler in einer Reihe nebeneinander und schauen den anderen bei ihren letzten Sätzen interessiert zu. Bei uns würden alle auseinander gehen und erst mal in ihr Handy schauen. Wir schauen zwei Runden zu und machen uns dann bereit fürs Mittagessen.
Nach dem Essen machen die meisten noch einen Mittagsschlaf. Um 16.00 Uhr beginnt der Wettkampf. Wir spielen in drei Teams, ich teile uns ein in Team 1, 2 und 3. Chinesen lieben Hierarchien. Ich ahnte es vorher schon. Die Chinesen stellen drei Teams dagegen mit gleicher Anzahl, vier bzw. fünf Spieler. Und gespielt wird denn jeder Deutsche gegen jeden Chinesen. Lee, der Engländer ist auch dabei, spielt in Team 3. Er ist nicht so stark, spielt etwas eckig.
Es sind einige neue chinesische Gesichter bei den Wettkämpfen zu sehen. Eine Frau, die am Hallenrand sitzt, kommt mir bekannt vor, kann sie nur noch nicht recht einordnen. Und plötzlich macht es Klick. Es ist die Mutter eines taubstummen Spielers, den ich vor zwei Jahren auf einem Turnier in Zhongshan gesehen habe, vier Flugstunden entfernt. Der Spieler und seine Mutter waren mir damals aufgefallen, weil sie sich in Gebärdensprache unterhalten hatten; ich meine, damals hatte Tobias Schmidt gegen den damals 17-jährigen im Turnier verloren, allerdings hatte Tobias damals mit verletztem Rücken gespielt. Jetzt besuche ich nach zwei Jahren das Milliardenvolk China und treffe jemanden, den ich zwei Jahre zuvor an einer anderen Ecke gesehen habe. Suwen erklärt mir, der Spieler ist jetzt Nr. 3 aller taubstummen Spieler in China und wird sehr gefördert, daher fährt er mit seinen Eltern quer durch das Land zu allen möglichen Orten und Turnieren.
Alle Spieler hängen sich rein. 4-5 Spiele, gegen starke Chinesen, wollen sich nicht blamieren. Gespielt wird ohne Pause. Am Ende sind wir alle total erschöpft. Die Spieler ruhen erst mal zehn Minuten auf der Bank aus, die Hemden sind wirklich zum auswringen nass von oben bis unten. Manche Chinesen spielen ab dem dritten Spiel mit bloßem Oberkörper. Jonasz und Michel schließen sich an; das ist überhaupt nicht unüblich in China. Das Ergebnis ist besser, als ich erwartet hatte. Im Team 1 zwingt PatrickM zwei seiner Gegner in den fünften Satz, verliert allerdings, ebenso wie Maarten in Team 3. Michael, Julian und Leo können eines ihrer Spiele für sich entscheiden und sind damit gemeinsame Tages-Vizemeister. Tagessieger ist heute Nils, der seinen – ca. 13-jährigen – Gegner gar mit 3:0 besiegen kann. Nils Gegner wird nach dem Spiel vom Trainer auch gleich aus der Halle in einen Nebenraum zitiert, offenbar gibt es eine besondere Motivationseinheit für ihn. Danach hat er jedenfalls aufgedreht, und gewinnt, ohne mit der Wimper zu zucken. – das ist halt Training in China.
Eindruck der Spieler: Die Chinesen haben alle nur einen guten Aufschlag und einen guten ersten Ball. Im offenen Ballwechsel sind sie nicht so stark.
Mein Fazit: Immerhin haben wir zwei Spiele gewonnen, es hätte schlimmer kommen können. In Zahlen allerdings 2:55. Gut, dass wir nicht um 10 Yuan gespielt haben, da hätten wir insgesamt rund 80 EUR verloren. Ich befürchte, Aufschlag und häufiger erster Ball reichen halt für uns und ein gutes Pferd springt nur so hoch wie es muss.
Nach dem cool-down nehmen wir unser Abendessen ein. Es gibt wieder einige neue Sachen. Manches lassen wir völlig liegen, z.B. irgendwelche gebratenen Entenflügel mit nichts dran außer Haut. Philipp meint, die sind gut für uns, damit wir Flügel bekommen und schneller laufen können. Anderes wird ratzeputz aufgegessen. Es ist üblich, dass die Speisen direkt mit Stäbchen von der Vorlegeplatte genommen und direkt gegessen werden, nicht unbedingt auf den Teller gelegt werden. Wir passen uns schnell an, picken uns heraus, was und schmeckt. Zum Essen gibt es Wasser vom Wasserspender, direkt aus 20-Liter-Kanistern.
Abends wollen wir etwas von der Stadt sehen, auf einen Markt gehen. PatrickM braucht ein paar Boxershorts, ist in dieser Hinsicht knapp aufgestellt. Die anderen wollen gern nach T-Shirts schauen oder nach Mitbringseln. Das Waschen hat noch nicht so recht geklappt. Einige haben täglich schon Hemden im Waschbecken ausgewaschen, andere nicht. Und übermorgen abend geht es weiter nach Changsha. Wir werden schon irgendwie durchkommen.
Zum Markt ist es etwas weiter, Chengdu ist eine 10-Mio-Stadt und damit fünfmal zu groß wie Hamburg+Umland. Wir wollen mit dem Taxi fahren, das ist recht günstig hier. Der Cheftrainer möchte uns nicht so gern mit Taxi zum Markt fahren lassen. Er hat Sorge, dass wir verloren gehen, weil ein Taxi uns am Nordeingang absetzt, das andere am Südeingang usw. Aber wir wollen weg. Also fahren wir gemeinsam mit dem Bus, begleitet von Suwen und dem Cheftrainer bis zum Markteingang. Ich verteile noch an jeden eine Hotelvisitenkarte, für den Fall, dass jemand verloren gehen sollte.
Die Busfahrt kosten 2 Yuan = ca. 26 Cent, aber man muss es passend haben, es gibt kein Rückgeld. Und ich habe nur jede Menge 100 Yuan-Scheine bei mir. Gut, dass Suwen für uns alle zahlt. Die Fahrt geht 20 min, der Bus ist klimatisiert. Sehr angenehm. Und nicht zu voll, wir können alle sitzen.
Am Eingang steht ein imposantes Tor mit vier Stufen Aufgang – ein schönes Fotomotiv. Wir nehmen Aufstellung zu einem kleinen Gruppenfoto auf den Stufen des Eingangs, ich mache 3-4 Fotos. Als alle nach den Fotos weggehen, ist dahinter noch ein vielleicht zweijähriges Kind zu sehen. Und eine große Lache Flüssigkeit, die sich über die Stufen ausbreitet hat, zeugt von einem kleinen dringenden Bedürfnis, das sich offenbar parallel zum Fototermin unter unseren Spielern entwickelt hat. Die Eltern sind unbesorgt, rücken die Hose zurecht und weiter geht’s. Wie praktisch, dass es in China für kleine Kinder Hosen gibt mit einem Loch in der Mitte.
Wir laufen über den Markt. Er ist anders, als wir erwartet haben. Er gibt keine großen Stände mit Fake-Klamotten, keine Boss-Unterhosen und Lacoste-Hemden und Puma-Socken – enttäuschend. Es ist eher ein Edel-Markt, Fressgeschäft an Fressgeschäft. Mit einem Bierhaus mit deutschem Bier, Schmuck, Designer-Klamotten, auch ein Starbuck’s hat sich hierher verirrt. Alles nobel und auf antik gemacht, mit leicht westlichen Anstrich, die große Pizza für 8 EUR, T-shirts für 20 EUR. Da kaufen wir nur am Stand Wasser oder Cola und vielleicht die eine oder andere Kleinigkeit und fahren dann mit dem Bus zurück.
Auf dem kurzen Fußweg in die Sportschule überfallen wir noch mit 16 Leuten einen Supermarkt. Ich nenne laut den chinesischen Namen des Markts, der in großen chinesischen Zeichen über dem Türschild prangt. Suwen wundert sich, dass ich die chinesischen Zeichen lesen kann. Gut, dass sie nicht die englische Aufschrift gesehen hat, die offenbar phonetisch der chinesischen Aussprache gleicht. Das Personal ist irritiert. So viele Ausländer auf einen Schlag, da wird jeder bewacht. Wir klauen nichts, es ist günstig genug. Die jüngeren stürzen sich auf die 2-Liter-Coke für 35 Cent, ich schmeiße eine Runde Kekse für die After-show-party heute Abend und komme nicht umhin, mir drei Dosen Kaffee zu kaufen, für Momente der Erholung. Noch hat keiner Geld, ich lege die Zeche aus.
Wir sitzen abends zusammen, gehen im Geiste noch mall den Tag durch. Ich frage, was besonders beeindruckend war: Die Wettkämpfe, meinen die meisten, die schaffen die meisten Eindrücke. Morgen wollen wir auch wieder Wettkämpfe spielen, gern auch mal Doppel. Ich frage nach dem Befinden, am Ende des zweiten Tages. Bei allen macht sich der Muskelkater bemerkbar, aber keiner jammert. Das finde ich gut. Leises Wimmern ist erlaubt, aber kein Jammern. Auch sonst ist jeder bei bester Gesundheit, das europäisierte Essen vertragen wir gut. Ich verteile noch jedem einen 100 Yuan-Schein, damit jeder zumindest etwas Geld in der Tasche hat.
Suwen ist unterwegs, wir wissen nicht, wie der nächste Vormittag organisiert ist. Wir wollen relaxen, Aufschlagtraining anbieten oder erholen für das inzwischen schon gewohnte Training am Nachmittag und Abend. Aber es ist ja klar, dass es anders kommt…