Brief aus Changsha

Heute und morgen sind unsere letzten beiden Trainingstage, dann geht es auf die Rückreise. Es ist ein eher kühlerer Tag, sonnig, aber mit leichtem Wind, so ca. 30°C. Wir besteigen nach dem Frühstück einen Bus, trainieren am Vormittag bei unseren neuen Chinesen. Der Bus fährt uns die große Hauptstraße entlang. Es geht eine 1,5 km lange Brücke über einen breiten Fluss, einen der vier großen Flüsse von Changsha. Er ist vielleicht vergleichbar mit der Elbe. An der anderen Uferseite biegt der Bus rechts ab, fährt eine Weile an der gut ausgebauten Uferpromenade aus hellem Stein vorbei. Die Straße ist breit, wie ein Boulevard, in der Mitte und an der Seite mit Bäumen umsäumt. Die Uferpromenade lädt zum Spazierengehen ein, aber leider werden wir keine Möglichkeit mehr dazu haben. Der Bus biegt ab, ein Stück vom flussabgewandt und hält vor einem großen, hohen silber-glänzenden Rolltor, davor ein Pförtnerhäuschen, die Einfahrt noch mit Hütchen versperrt. Ein Wachmann erscheint, spricht mit unserem Fahrer. Der Wachmann räumt lustlos die Hütchen beiseite und öffnet das elektrisch betriebene überdimensionierte Scherengitter. Er sieht aus wie ein Hochsicherheitstrakt, mit viel blankgeputztem Stahl. Der Bus fährt rein und windet sich gleich einen Hügel hoch. Wir sind auf einem Schulgelände, vermutlich ein Internatsgelände. Auf dem Gelände stehen große Gebäude, wohl Lehrgebäude oder Unterkünfte. Wir halten vor einem würfelförmigen Gebäude, so ca. 30 * 30 Meter in den Ausmaßen, fünf Stockwerke hoch. Am Eingang prangt die Aufschrift „Gymnasium“, das englische Wort für Turnhalle.
Wir gelangen in eine der inneren Turnhallen, eine eher niedrige Halle mit dunklem Parkettboden, darin stehen zwanzig Tische und sechs viereckige Stückpfosten mittendrin, mit einer Schaumstoffmatte ummantelt, zum Schutz der Sportler. Das Licht ist kalt-weiß, ich muss bei meiner Kamera sogar den Weißabgleich korrigieren, damit die Farben richtig rüberkommen. Tische und der Parkettboden spiegeln das Licht, die Spielverhältnisse sind auf den ersten Blick nicht zu gut, aber aus meinen früheren Reisen erkenne ich den Stil als typisch chinesischen Turnhallenstil wieder.
Wir machen zwei Übungen, auf Platzierung. Unsere Gegner sind Internatsschüler, im Alter von ca. 12 bis 19 Jahren. Die Chinesen bereiten sich auf eine wichtige Landesmeisterschaft vor, daher wollen sie viele Wettkämpfe spielen. Im zweiten Teil machen wir Kaisertisch, an rund 12 Tischen. Am Ende sammeln sich sieben unserer Spieler an den letzten vier Tischen. Michel freut sich, steht er doch beim Abpfiff weit vorn auf der Siegerseite, noch vor PatrickM. Michel ist stolz, sieht es als eindeutig erwiesen an, dass er heute der beste Europäer in der Halle ist.
Wir fahren zurück mit dem Bus, nehmen unser Mittagessen im gewohnten Restaurant ein. Wir bereiten Abschiedsgeschenke vor für unseren Politoffizier und den Cheftrainer, haben das gemeinsame Bild in groß entwickeln lassen und unterschreiben noch einmal darauf. Die anderen Gastgeschenke unserer Teilnehmer hatte Suwen immer schon mal verteilt an die vielen Personen, die sich im Hintergrund für unsere Fahrt eingesetzt haben. Offizielle Stellen erhalten dann dazu noch einmal ein Gastgeschenk, wobei die Geste zählt, nicht der Wert.
Am Nachmittag haben wir dieselbe Trainingsgruppe, aber sind in „unserer“ Halle. Wir sind froh, empfinden unsere Halle als deutlich freundlicher und ansprechender. Wir freuen uns aufs Nachmittagstraining. Wir wollen Wettkämpfe in 2-er-Mannschaften spielen. Zwei Deutsche gegen zwei Chinesen, zwei Einzel jeder und ggf. noch ein Doppel. Es herrscht eine gute Wettkampfatmosphäre. Wie auf Kommando pushen sich die Chinesen, viele bei jedem Punkt. Im Wettkampf verstehen die Chinesen keinen Spaß. Wir schließen und an, etwas zu zaghaft noch, finde ich. Es gehört auch dazu. Manchen Chinesen machen immer wieder verdeckte Aufschläge. Vielleicht gilt es hier noch als Kavaliersdelikt, wie bei uns vor fünf Jahren.
So ganz dominant sind unsere Gegner nicht. Manchmal haben wir das Gefühl, dass wir eigentlich gewinnen müssten, der Gegner schwächer sei. Aber dann schaffen wir es doch nicht. Oder der Gegner ist deutlich stärker, und dann pushen sich die Chinesen sogar noch beim Stand von 9:2 ohne Ende. Und immer wieder die Aufschläge. „Die machen alle verdeckte Aufschläge“, so die Standardklage unserer Spieler. PatrickM regt sich am meisten auf über die verdeckten Aufschläge. Er wehrt sich, geht dazu über, ebenfalls verdeckte Aufschläge zu machen und stimmt ein übertriebenes Pushing an. Und tatsächlich, Patrick gewinnt am Ende, verlässt die Halle mit einem Sieg und der Chinese geht mit eingezogenem Kopf vom Tisch.
Am Ende des Nachmittags gewinnen Nisse und Jonasz immerhin ein Spiel. Gemeinsame Tagessieger sind PatrickM und Julian mit je zwei gewonnenen Spielen. Leo ist nach den Wettkämpfen wieder enttäuscht. Er sieht für sich keine Chance im Wettkampf und gibt auf, ist noch zu einseitig aufs Gewinnen fixiert und kann sich daher auch nicht so an guten Bällen erfreuen. Morgen sollte Leo auf die Wettkämpfe verzichten.
Wir gehen zum Abendessen. Eine der Serviererinnen übergibt Jonasz einen kleinen Zettel. Darauf sechs Zeilen, handschriftlich, in Schreibschrift, in Englisch. Als Wei Xu stellt sich die Schreiberin des Briefes vor und heißt Jonasz in Changsha willkommen. Sie möchte befreundet sein mit Jonasz und fragt nach den Kontaktdaten. Es ist schon auffällig, dass Jonasz viel Aufmerksamkeit bei den Chinesen genießt. Ich vermute, es ist seine Größe und die hochgestylten Haare, die man hier so nicht sieht. Jonasz unterhält sich mit ihr, es ist eine der Serviererinnen, ihre Kolleginnen stehen drum herum, helfen beim Übersetzen. Jonasz soll sich eine App runterladen, so eine Art chinesisches WhatsApp, es funktioniert aber nicht. Jonasz hinterlässt dafür seine Mailanschrift und Mobilnummer und hat eine internationale Freundin mehr.
Abends haben wir freies Programm. Einige wollen sich gern wieder ins Gewühl stürzen und auf den Nachtmarkt gehen, noch Besorgungen für sich oder für daheim erledigen. Andere bleiben in Hotelnähe, aber jeder macht irgendetwas draußen. Ich gehe hier in der Nähe Einkaufen, zur Abwechslung mal allein, gönne mit noch eine Kleinigkeit vom 85°-Bäcker, ein erfrischendes Kokosgebäck, und sitze auf einem Pfeiler vor unserem Hotel, um dem nächtlichen Treiben zuzuschauen. Es ist ein ewiges Treiben, Taxen bringen Fahrgäste und fahren gleich wieder mit neuen Fahrgästen weg, Alt und Jung flanieren, eine große Anzahl von Motorrollern ist unterwegs. Ich bemerke erst jetzt, fast alle Motorroller haben Elektroantrieb. Einige Elektropolizeifahrzeuge haben wir auch schon gesehen, selten Elektro-PKWs, aber fast alle Motorroller fahren und beschleunigen mit ungewohnter Geräuschlosigkeit über Straßen und Bürgersteige. Plötzlich tippt mir jemand auf die Schulter. Die beiden Patricks kommen vom Einkaufen, haben mich entdeckt.
Alle kommen wieder gut vom Nachtmarkt zurück, auch Julian, der den letzten Teil noch allein laufen wollte. Es ist schon etwas komisch, allein durch eine unbekannte Stadt zu fahren, und man kann kein Schild lesen und kein Wort verstehen. Wieder wurden wir als Europäer bestaunt. Einigen wurden spontan Zigaretten angeboten, eine freundschaftliche Geste in China. Und auch heute gab es wieder ein Feuerwerk. Bei unserem allabendlichen Meeting erzählen alle wieder von ihren kleinen Erlebnissen. Das abendliche Meeting ist zum festen Ritual geworden. Mit allen Leuten in ein Zimmer, dann gehen wir den Tag nochmal durch oder besprechen Organisatorisches für den nächsten Tag.
Morgen fährt Suwen weg, will noch für einige Tage ihre Eltern besuchen. Hier werden wir es hoffentlich hinbekommen ohne Suwen, obwohl es ungewohnt ist. Aber unser Polit-Offizier Mr. Fan soll bei allen Veranstaltungen dabei sein und für unsere „Sicherheit“ sorgen. Suwen will morgen fort fliegen, danach vielleicht noch mit einem Leihwagen weiter nach Kaili. Und wir haben morgen unseren letzten Trainingstag und das offizielle Abschiedsessen.

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