In den Fängen des Koberers

Wir stehen auf, alle sind um 7.30 Uhr pünktlich beim Frühstück. Wir erwarten einen erholsamen Vormittag, Aufschlagtraining, wer mag, und ich kann meine Fotos und Videos sortieren. Aber es kam anders. Suwen will uns etwas bieten, schlägt einen Ausflug zu einem anderen Markt vor, weil der gestrige Markt uns nicht die erhofften Fake-Klamotten hatte. Einige wollen lieber auf dem Zimmer bleiben, sind erschöpft oder wollten lieber nichts kaufen. Aber in einem fremden Land sieht man mehr, wenn man vors Hotel geht.
Mit neun Teilnehmern und Suwen + Sohn marschieren wir los, wollen mit dem Taxi zum Markt. Es ist das erste Mal, dass wir echten Ausgang haben. Wir hätten natürlich jederzeit in den benachbarten Sportpark gehen können, mit Laufstrecken, Fußballpatz und einem Stadion. Die Sonne scheint, aber es ist diesig, gleichwohl schwül-warm, ca. 30°C. Wir benötigen drei Taxis, die kosten für unsere Verhältnisse wenig.
Zu einfach gedacht: Zehn Minuten lang fahren rund 50 besetzte Taxen an uns vorbei. Wir wollen schon fast abbrechen, warten in den aufkommenden Tageswärme am Straßenrand. Endlich haben wir Erfolg und im Nu sind auch drei freie Taxen da. Glück gehabt. Die ca. zwanzigminütige Fahrt kostet 25 Yuan = 3 EUR je Wagen, überschaubarer Preise. Dafür bekommt man auf dem Beifahrersitz noch gleich großes Kino dazu geliefert, eine Mischung zwischen Achter- und Geisterbahn. In China – so lernen wir – werden rote Ampeln eher als Landschaftsdekoration angesehen. Der Gegenverkehr hat grundsätzlich keine Vorfahrt und bei einer die Straße überquerenden Menschengruppe wird halt die größte Lücke ausgesucht zum durchfahren, nicht ohne seinen gewünschten Fahrweg durch mehrfaches Hupen etwas Nachdruck zu verleihen. Praktisch, so eine Hupe, die ersetzt hier auch gleich das Blinken beim Spurwechsel. Sicherheitsgurte gibt es, bisher habe ich auch noch niemanden mit angelegtem Gurt gesehen. Zu Hause würde ich keine 100 Meter ohne Gurt fahren.
Wir treffen uns alle beim Markteingang, wollen zusammen bleiben. Alle haben ja etwas chinesisches Geld, können etwas kaufen und für größere Ausgaben hatte ich gestern bei Suwen gestern 1000 EUR eingetauscht. Geld eintauschen scheint in dieser 10-Mio-Stadt schwierig zu sein. Suwens Versuch zum Direkteintausch bei drei Banken scheiterte, meinte sie. Eine Freundin hat dann die begehrten Scheine besorgt – ohne Quittung, offenbar außerhalb des offiziellen chinesischen Bankensystems getauscht. Aber der Kurs war ok.
Wir gehen ins erste Kaufhaus, schauen nach t-Shirts und Klamotten, und vielleicht noch eine Boxershort für PatrickM. Patrick ist lieber im Hotel geblieben. Er schläft nicht gut auf den harten Betten und hat Schlafdefizit. Die Klamotten sind ok, nicht gerade billig. Wir wollen noch anderswo schauen.
Auf der Straßen treffen wir einen Koberer, der Werbung für seinen Fake-Klamottenmarkt macht und unsere auffällige Euro-Truppe wohl als willkommenes Opfer ausgeguckt hat. Wir folgen ihm arglos. Er führt uns um eine Hausecke herum, um noch eine, dann um noch eine. Wir fragen uns, wohin wir gelangen und ob es eine gute Entscheidung war ihm zu folgen. Aber wir fühlen uns mit Suwen sicher. Wir werden in einen schäbigen Hinterhof geführt. Einer sagt, wir werden hier gleich entführt, und alle verbreiten den Spruch. Ich denke an ein Restaurantbesuch vor zwei Jahren bei einem Inder in Hongkong, das fing ähnlich an und plötzlich tat sich ein edles Lokal auf. Michel hatten den fünfstöckigen Fake-Markt in Peking im Sinn.
Wir lagen daneben. Wir werden durch ein dunkles und schmutziges Treppenhaus geführt. Er riecht merkwürdig. Wir gehen die einfache Treppe hoch, im Gänsemarsch mit zwölf Leuten, versuchen, uns untereinander nicht zu verlieren. Irgendwo geht es dann über einen Balkon in einer Wohnung. Der Balkon dient auch gleich als Garküche, zwei Feuerstellen sind aufgebaut, alles schmutzig unter heruntergekommen. Wir gelangen in die Wohnung. Im gefühlt 12 m² großen Hinterzimmer tut sich ein Klamottenladen auf, mit T-Shirts, Trikots und Taschen, dahinter noch ein zweiter kleineres Zimmer mit einem Bett und Fernsehen, davon Kleiderstangen mit Kleidern. Wir sind enttäuscht. Die Auswahl ist klein und entspricht nicht unserem Geschmack. Und die Umgebung schon gar nicht. Suwen macht aus Höflichkeit einen Versuch, Jonasz zieht sich ein T-Shirt über. Aber wir lassen es, Suwen erzählt irgendwas und wir schauen, dass wir rauskommen. Unten meint Philipp, er war sich nicht so sicher, dass wir hier unbeschadet heraus kommen.
Unter auf der Straße treffen wir auf zwei junge Leute, die ganz passabel Englisch sprechen. Es sind ein Sohn von Suwens Freundin aus Chengdu und dessen Freund. Beide haben sich Zeit genommen, uns beim Rundgang zu helfen. Für Suwen ist es immerhin 20 Jahre her, dass sie hier war. In China sind so alte Verbindungen offenbar wertvoll und werden zur gegenseitigen Unterstützung gepflegt. Da sollten wir uns ein Beispiel daran nehmen. Michel sieht einen Polizisten. Er leiht sich einen Stift aus einem Geschäft, holt sich eine Pappe aus dem Müll und notiert dann darauf irgendwelche Verkehrssünder. Suwen meint, das ist normal, die Polizisten haben kein Papier dabei.
Die beiden führen uns in ein weiteres Klamottengeschäft. Das kommt gut an. Die meisten kaufen gut ein. Bei einigen habe ich Sorge, ob sie nicht gleich ihr ganzes Geld ausgeben. Es sind meistens t-Shirts, verschiedene Labels für ca. 10 EUR, oder Sporthosen. Ich kaufe mir zwei t-Shirts. Und fünf Sockenpaare im Doppelpack für die fünf Daheimgebliebenen, sie sollen auch nicht leer ausgehen. Mit 12 Leuten Einkaufen gehen, ist nicht ganz einfach. Und es dauert lange, man steht oft.
Langsam haben wir weder Lust auf Laufen noch auf Kaufen. Es ist Mittagszeit. Wir wollten schon im Hotel sein, gemeinsam Mittagessen mit den anderen. Suwen meint, es ist egal, das Essen bleibt halt auf dem Tisch stehen. Mir wird klar, dass wir Europäer immer pünktlich und warm essen müssen, den Chinesen scheint Essen genauso zu schmecken, wenn es lauwarm oder schon kalt ist (wenn man hier überhaupt von Kälte sprechen kann). Aber unsere beiden Führer wollen uns noch ein weiteres Geschäft zeigen. Wir willigen ein, mir fällt es schon schwerer mitzugehen. Ich hoffe, dass unsere Jugendlichen nicht animiert werden, ihr ganzes Geld vom vierten Tag auszugeben. Es gibt bestimmt noch weitere Gelegenheiten.
Wir laufen über eine große Straßenbrücke. Auf den Stufen sitzt mitten im Weg ein Mann, versperrt den Weg. Er sitzt auf den Stufen, zeigt seinen entblößten Unterschenkel, an dem eine geldscheingroße klaffende Wunde, die der Mann wohl noch sorgfältig mit einem Messer auszuschaben scheint. Es sieht sehr eklig auch, neben ihm steht ein Sammeltopf für Geld. Wir schauen, dass wir vorbei kommen. Der Mann muss unter Drogen gestanden haben, so unsere Meinung.
Der vierte Laden an diesem Tag bringt nicht mehr viel. Nisse kauft sich noch eine Holister-Hose für 10 EUR. Mehr nicht. Ich bin froh, dass das Einkaufen zu Ende ist. Die Jugendlichen sollten nicht am ersten Tag so viel kaufen, denke ich. Lieber noch etwas ausruhen vor dem Training. Maarten fällt auf, dass er im letzten Laden seine Einkaufstüte vergessen hat. Wir haben wieder Glück, einer unserer beiden Führer läuft zurück und bringt sie am Nachmittag in unsere Sportschule. Mir drei Taxen geht es wieder zurück in die Sportschule, Mittagessen. Die anderen haben schon vorgegessen, richtig so.
Nachmittags ist Training. Jonasz hat sich seine verpackt mitgebrachten neuen Beläge aufkleben lassen. Schreck: beide Seiten sind rot. Ich hatte die Sammelbestellung zuvor aufgegeben, nichts weiter geprüft. Vielleicht lag der Fehler bei Contra, vielleicht bei mir. Ich sage Jonasz einen neuen Belag in der richtigen Farbe zu, für China wird es reichen. Ein Mann wird mir vorgestellt, es ist der Arbeitsgeber einer unserer beiden Stadtführer. Suwen sagt, er lädt uns für heute Abend zum „Feuertopf“ ein. Er arbeitet im Tourismus-Sektor und findet es schön, dass Ausländer hier sind. Wir sagen zu. Am Ende der Einheit spielen wir noch jeweils zwei Doppel auf zwei Gewinnsätze, Deutschland gegen China. Die Bilanz sieht hier schon etwas besser aus. 4:8 insgesamt, vier Doppel konnten jeweils ein Spiel gewinnen: Philipp+PatrickB, PatrickM + Nils, Julian+Maarten und Malte+Leo.
Abends haben wir wieder Wettkämpfe vereinbart, Einzeln, Chinesen gegen Deutsche. Wir bleiben in unveränderten Teams, die Chinesen rotieren mit ihren Spielern, damit jeder immer neue Gegner hat. Es ist Prinzip der Chinesen, immer gegen möglichst viele verschiedene Spieler Wettkämpfe zu spielen, um zu lernen. Wir sind da wesentlichen enger im Denken, haben vielleicht auch nicht die Breite, um so zu trainieren. Ein kleiner ca. 12-jähriger Chinese fällt auf. Er pusht sich nach jedem gewonnenen Punkt, auch nach Netz- und Kantenbällen, mit zwei lauten Schreien, die er gleich nochmal wiederholt, damit sie auch jeder hört, fast über zwei volle Sekunden hinweg und immer mit exakt derselben Tonlage. Es nervt schon etwas. In Hamburg hätte er bei dritten Mal hoffentlich die gelbe Karte bekommen. Michel ist entnervt, gibt seine Sätze gegen den kleinen Schreihals glatt ab. Den anderen geht es ähnlich und der kleine Krakehler kommt ohne Niederlage durch. Unsere Spieler müssen lernen, sich von solchem Verhalten nicht aus der Bahn bringen zu lassen, müssen im Kopf noch viel stabiler werden. Zum einen Ohr rein und zum anderen Ohr raus – bei den Eltern funktioniert das doch auch.
Am Ende lautet die Einzelbilanz 8:49, immerhin schon eine kleine Steigerung. Nils, PatrickM, Hannes,, Julian, Jonasz und Michel konnten je ein Spiel gewinnen, Leo wurde Tagessieger mit zwei gewonnenen Spielen.
Es ist unser letzter Trainingstag in Chengdu. Alle Spieler stellen sich am Ende noch zum Fototermin auf. Der Leiter bedankt sich für unsere Teilnahme und verabschiedet uns, Suwen übersetzt. Ich mache eine kurze Erwiderung und übergebe noch ein HTTV-Handtuch. Chengdu hat immerhin einen internationalen Flughafen und ist für uns relativ leicht erreichbar. Vielleicht sieht man sich ja mal wieder…
Am Ende kommt noch ein Spieler auf Michel zu, begehrt einen Trikottausch. Es ist Tomahawk, so haben wir den Spieler genannt, wegen eines entsprechenden Aufschlags. Ein sehr motivierter Spieler und guter Spielpartner. Beide hatten mehrfach gut miteinander trainiert. Der 16-jährige gibt sein Trikot an Michel, Michel wird im Gegenzug sein altes Trikot los und beide sind hoch erfreut – ein schönes Beispiel der deutsch-chinesischen Völkerverständigung.
Das Turnier dauert lange, länger als geplant. Wir müssen morgen früh packen und fürchten um unsere Nachtruhe, wenn wir jetzt noch zum Feuertopf gehen. Unsere Gruppe sagt daher ab, Suwen geht allein mit Hannes hin, will aus Höflichkeit nicht ganz absagen. Ich hoffe, es kommt nicht zu unhöflich rüber, wenn wir nicht dabei sind.
Wir besprechen uns noch kurz nach und gehen ins Bett. Und morgen sind wir die Stars – und die Hälfte geht gleich wieder baden.

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