Heute haben wir einen hohen Krankenstand. Julian hat noch etwas Durchfall und vor allem Bauchschmerzen, beschränkt sein Frühstück auf Weißbrot und Kohletabletten. Malte hat die Massage von gestern zugesetzt, er kann sich kaum bewegen, sagt er und legt sich nach dem Frühstück wieder hin. Jenni und Kristin haben sich gestern beide bei der dritten Trainingseinheit überdehnt, am Fußgelenk bzw. am Oberschenkel. Hannes will heute nur nachmittags trainieren und auch Thomas steigt nach dem Einlaufen aus. Daher spielen wir heute nur mit zehn Spielern und einige Chinesen trainieren unter sich.
Das Vormittagstraining läuft gut, Nils bekommt ein Mädchen mit kurzer Vorhand-Noppe und kommt damit anfangs gar nicht klar. Hartes Kurz-Noppenspiel ist im Jungen/Herren-Bereich bei uns unüblich. Sich darauf einstellen zu können ist auch wichtig, aber es erfordert sehr hohe Konzentration. In der Pause unterhält sich Jonasz mit seinem chinesischen Spielpartner, ein weiterer Chinese gesellt sich dazu. Die Gruppe lernt sich langsam kennen.
Philipp und PatrickB merken die ungewohnt hohe Belastung; Philipp meint, er hat gestern 6 Liter Wasser getrunken. Die fünf Kaderspieler stecken die Belastung relativ gut weg, die anderen Spieler stehen aber auch nicht nach. Keiner schont sich, jeder will möglichst viel aus dem Training mitnehmen. Die Trainingsatmosphäre ist unverändert konzentriert. Alle sehen die Nächte als willkommene Gelegenheit zum Schlafen.
Das Penholderspiel ist zunehmend interessant für mich. Ich könnte mir gut vorstellen, auch mal den einen oder anderen Spieler als Penholder im Verein auszubilden.
Nach dem Vormittagstraining müssen wir uns sputen. Schnell ins Hotel, duschen, dann fahren wir mit weißem Hemd, Krawatte und langer Hose zum offiziellen Empfang der Ausländerbehörde. Es klappt gut, alle sind pünktlich. Michel, Malte und Leo muss ich den Schlips binden. So schlimm ist es gar nicht, mit eleganten Klamotten durch die Sonne zu laufen, jedenfalls ist es nicht viel schlimmer als in kurzer Hose. Und der bereitstehende Bus ist klimatisiert, ebenso wie alle Gebäude. Wir schleichen rund 45 Minuten durch den dichten Verkehr und halten vor einem eleganten Restaurant. Wir essen heute Chinesisch.
Wir werden in einen Raum geführt mit drei runden Tischen. Wir sollen vom Chef der Ausländerbehörde empfangen werden. Meine Nervosität hält sich in Grenzen. Ich habe schon mehrere solcher Empfänge in China mitgemacht und habe diese auch ohne allzu große Blamage überlebt. Neben unseren Teilnehmern sind drei der Organisationschefs dabei und noch rund fünf weitere Personen im Raum, die ich nicht kenne.
Ich werde einer elegant gekleideten Frau vorgestellt, sie ist offenbar die Chefin im Ring. Und plötzlich werde ich von einer jungen Chinesin in flüssigem Deutsch angesprochen und willkommen geheißen. Sie ist wohl Dolmetscherin. Ja klar, denke ich mir, wir werden ja von der Ausländerbehörde eingeladen. Da ist es naheliegend, dass auch jemand Deutsch sprechen kann und als Dolmetscher dabei ist.
Mir wird ein guter Platz an Tisch 1 mit Sicht auf die anderen Tische und auf die Türe zugewiesen, links neben mir die Chefin, auf der rechten Seite die Dolmetscherin. Dann einige Diskussionen um die Plätze, unsere Gruppenteilnehmer stehen artig da und warten, wo sie hingesetzt werden. An Tisch 1 sitzen auch Thomas und Hannes, die senioreren Teilnehmer der Gruppe, das hatte ich erwartet. Suwen sitzt mit dem Polit-Offizier und der Hälfte unserer Gruppe an Tisch zwei. An Tisch drei sitzt der Sporthallenchef mit seiner Frau und die andere Hälfte unserer Gruppe.
Die ersten Gerichte werden aufgetragen. Als Getränk hat jeder ein Glas Tee bekommen. Den Erwachsenen wird etwas Wein eingeschenkt, ansonsten so etwas wie Fanta. Die vier mir unbekannten Chinesen an meinem Tisch können wohl auch Englisch, fragen mich über den Tisch hinweg das eine oder andere. Die Chefin steht auf, nimmt das Wort, die Dolmetscherin übersetzt. Sie begrüßt unsere Gruppe im Namen der chinesischen Behörde in Hunan, zeigt sich erfreut über unseren Besuch und hofft, dass es uns in der Provinz Hunan gefällt. Am Ende erhebt sie das Glas, stößt mit mir an und bittet alle ebenso anzustoßen. Danach klatschen alle und setzen sich. Ich frage, ob ich erwidern darf, denke, dass es angemessen ist. Ich stehe auf und spreche auch einige höfliche Worte frei heraus, immer mal eine Pause zwischendrin, damit die Dolmetscherin übersetzt kann. Im dritten Jahr China finde ich diese Situationen nicht mehr so anstrengend. Meine Worte werden auch mit Applaus quittiert. Als ich mich setze, merke ich, dass ich ebenfalls noch hätte mit der Chefin anstoßen dürfen, so wie bei einem Staatsempfang. Aber egal, ist passiert, wir sind nur Tischtennisspieler. Zum Außenminister reicht es also noch nicht bei mir.
Der Service und das Gedeck ist mindestens eine Stufe höher als in unserem Restaurant. Es gibt eine warme Serviette vorweg und eine Schale kühlen Joghurt als Vorspeise. Das Essen sieht gut aus, es sind aber relativ viele schärfere Speisen dabei. Für mich kein großes Problem, aber den meisten Teilnehmern wird unser Hotelessen deutlich besser geschmeckt haben. Die Dolmetscherin stellt mir leise die anderen Tischgäste vor, vier Personen, die aus irgendwelchen Behörden kommen. Wir üben uns etwas im Small talk, mit der Dolmetscherin, das ist einfacher, aber auch über die Dolmetscherin mit der Chefin. Wie in China üblich, kommt alle fünf Minuten mal ein Tischgast auf mich zu, heißt mich oftmals in Englisch stellvertretend für unsere Delegation noch einmal willkommen und stößt mit mir einzeln an. Ich kenne das schon, gehe dann auch zu unserem Polit-Offizier und dem Sportchef und stoße mit ihnen an.
Nach der Melone instruiert mich die Dolmetscherin, dass sich das Essen dem Ende zuneigt. Die Chefin steht noch einmal auf und übergibt mir ein Geschenk, einen gerahmtes Panda-Symbol, wohl eine typische Handarbeit aus der Region. Ich übergebe ihr auch einige Gastgeschenke, eine Weinflasche aus Deutschland, ein Handtuch des HTTV und einen Sasel-Wimpel. Das Essen endet damit relativ abrupt, so kenne ich das aus China. Wenn die Chefin geht, gehen alle recht schnell. Ich verabschiede mich, es gibt noch nicht einmal einen gemeinsamen Fototermin.
Nach dem Training machen wir immerhin unter uns noch einen Fototermin und fahren dann mit dem Bus zu einer externen Sportschule, noch immer elegant gekleidet, in schwarzer Hose und weißem Hemd. Das hat Stil, denke ich mir, die Chinesen werden beeindruckt sein, uns in diesen Klamotten zum Training kommen zu sehen. Unser Ziel ist die Sportschule, in der „unsere“ Chinesen untergebracht sind und das ganze Jahr über leben und trainieren. Unsere gewohnte Trainingshalle ist heute Nachmittag wegen eines Basketballspiels nicht verfügbar.
Die Halle dort ist vergleichbar groß wie unser Universitätshalle, aber nicht so hoch. Sie ist mit 20 blauen Tischen ausgestattet, wirkt dadurch enger und ist noch leer und hat einen roten Boden. Das Klima entspricht einer Sauna. „Hier kann man nicht spielen“, so die ersten Kommentare. Ich bemerke mehrere Klimageräte an den Ecken und Seiten und erwarte, dass diese in Kürze halbwegs erträgliche Temperaturen erzeugen, sobald sie angestellt werden. Und so ist es auch.
Die uns bekannten Chinesen kommen, wir machen ein gemeinsames Aufwärmen und dann geht es gleich zur Ballkiste. An ca. 14 Tischen wird Ballkiste gespielt, jeweils zwei Chinesen und ein Deutscher. Es gibt keine Fangnetze. Die Chinesen spielen im Wechsel ein, der Deutsche darf nicht einspielen, sammelt dafür mehr – jeder das, was er am besten kann.
Und dann geht es los. So etwas habe ich noch nie erlebt in meinen China-Reisen. Ohne Einspielen, direkt an die Ballkiste. An 14 Tischen wird VH-TS gespielt, ganzer Tisch, aber über vier Punkte verteilt hin und zurück. Eine Einspielübung für die Chinesen. Es hört sich an wie im Kasernenhof. Viele Chinesen pressen bei jedem Topspin Luft raus, erzeugen rhythmische Presslaute, so ca. 90 beats pro Minute, von allen Seiten. Ich komme mir vor wie in einer Disco oder auf dem Exerzierplatz, dabei gibt es keine vernehmbaren Anweisungen und kein Trainer spielt einen Ball ein. Es wird ausschließlich direkt eingespielt, geübt und routiniert und mit einem Tempo, dass wir nur staunen können.
Wir wollen nicht nachstehen, schaffen es auch, um den Preis, dass wir nach 90 Sekunden und 145 Bällen platt sind, wie nach einem 400-Meter-Lauf auf Zeit. Und die Einheit heute soll fast drei Stunden dauern. „Das halte ich nicht durch“, so die ersten Kommentare. Ich ermutige die Spieler, sich anzupassen, sich hoch zu leveln, setzte auf Anpassung in der Gemeinschaft. Und frage nach Wasser.
Philipp ist total erstaunt. Er trainiert unsere Basisgruppe, sieht die Sache auch aus der Trainersicht und will natürlich auch neue Eindrücke für sein Training mitnehmen. Aber hier hat man den Eindruck, in Europa kann man machen, was man will, dieser Intensität ist man einfach nicht gewachsen. Und dabei ist dies wohl nur eine Tischtennis-Schule unter Hunderten im ganzen Land. Wenn es uns nur gelänge 20% davon in den Verein zu tragen, wären wir ganz vor, denke ich mir. Suwen meint, hier werden Profis ausgebildet. Und viele Spieler träumen vom Erreichen der Landesmeisterschaften, haben aber auch Pläne wie z.B. ein Studium in Peking und dann über die Tischtennis-Stärke einige Zeit ins Ausland zu gehen. Vielleicht können wir auch einen Chinesen für uns gewinnen.
Wir halten erstaunlicher Weise durch. Es wird in systematischer Folge sehr vielseitig trainiert, Vorhand-Rückhand 2:2 oder aus der Rückhand einmal großen Falkenberg und dann wieder Rückhand. Bei dieser Übung werden mir wieder die unterschiedlichen Laufwege deutlich, der Kreuzschritt ist der Standard bei den Chinesen, die Deutschen versuchen es – und scheitern oft – mit Sidesteps. Unsere Spieler sind nicht mit beiden Varianten vertraut, auch die Kaderspieler nicht. Das sollten wir mal bei der nächsten Ballkiste üben. Es folgen Eröffnung + erster Ball, Flip-Variationen, Eröffnung auf halblange Bälle, oder Topspin diagonal hart punkten. Alles wird routiniert eingespielt, keine lauten Kommandos, kein großen Reden.
Wir fahren wir mit dem Bus ins Hotel, nehmen im Restaurant unser Abendessen ein. Am Abend machen Leo, Jonasz und Michi noch eine Massage. Leo muss ich zum Jagen tragen, er kennt keine Massage und hat aus den Erzählungen der anderen von gestern wohl etwas Angst vor den Nachwirkungen. Suwen mit Kindern und ich schauen zu, das ist ganz zwanglos möglich. Die Masseusinnen reden miteinander und mit Suwen in Chinesisch, wir reden auch, die Massage sieht für einen Zuschauer recht lustig aus und der kleine Louis springt mit seinem Spielzeugschwert über alle Betten und macht Späße.
Gleichzeitig findet noch eine Einladung zum Tee statt, über Mr. Wen, der die Reise im Hintergrund organisiert hat und den auch Hannes gut kennt. Von uns sind vier Personen dabei, es sind Hannes, Philipp und PatrickB und Julian. Eine Verwandte von Mr. Wen ist dabei, die Deutsch sprechen kann, und noch einige andere Personen. Alle können Englisch sprechen, so dass eine Verständigung gut möglich ist. Die Einladung geht in eine Tee-Bar, in der Art eines Ausstellungsraums, mit Teespezialitäten aller Art. Die Gastgeber bereiten den Tee stilvoll mit den entsprechenden Geräten, Kannen und Schälchen zu und erklären die Teezubereitungsprozedur. Nach drei Stunden sind unsere Teilnehmer wieder im Hotel, erzählen sehr positiv von dem Gespräch.
Wir sind recht erschöpft vom Tag. Aber das Ballkistentraining hat alle begeistert – sehr schön. Es ist schon spät, wir fallen schnell in die Betten.
Und morgen erfahrt ihr von einer Shing-Shang-Shong-Wette, über die alle nur die Nase rümpfen.