Die Nacht war gut, aber da die Trainingszeit vorverlegt wurde, musste ich schon um 7.00 Uhr meinen Weckruf starten.
Heute hat Malte Geburtstag, wird 17 Jahre. Der erste Geburtstag ohne Eltern, aber sie werden sicher auch aus der Entfernung in Gedanken gratulieren. Wir überraschen Malte mit einem kleinen Geburtstagsständchen im Bett, er wirkt noch ziemlich verschlafen. Nisse, Maarten und Leo hatten schon um Mitternacht gratuliert.
Wir vergessen unseren Kleber im Hotel, ich laufe noch einmal zurück, kann etwas mehr auf die Umgebung schauen. Wir sind hier auf dem Campus-Gelände, überall Wissenschaftsgebäude. Dazwischen sind wohl auch Wohngebäude. Kleine Geschäfte in Norm-Betonboxen stehen am Rand der Zufahrtsstraße, mit kleinen Garküchen, Papier- oder Schmuckwaren, Friseurgeschäft, Getränkebar. Es wirkt etwas einfach und staubig. Ein schwarzes Huhn kreuzt meinen Weg. Die meisten Menschen sind gut gekleidet, ab und zu sieht man einen Lumpensammler, der sein Wägelchen entlang zieht und Altpapier oder Plastikflaschen sammelt. Wasserflaschen kann man hier an jeder Ecke kaufen, das ist aber auch notwendig. Ein Pfandsystem gibt es nicht, aber die Flaschen werden wohl auch so aussortiert und wieder verwendet.
Zwei schwarze Limousinen stehen in einem Kreuzungsbereich, fahrunfähig, beide mit einer großen Parkkralle versehen und einem Zettel an der Windschutzscheibe. Vielleicht stehen sie im Halteverbot und die Eigentümer müssen erst Strafe bezahlen, bevor die Autos befreit werden. Eine Ecke weiter höre ich asiatische Musik. Zwei Frauen haben einen Recorder auf die Einfahrt gestellt und machen dazu rhythmische Bewegungen. Ich komme näher, sehe erst jetzt: Beide habe eine Art Tennisschläger in der Hand, mit einer sehr lockeren Bespannung, darauf eine Art Tennisball liegend. Ziel ist wohl, bei allen Dreh- und Schwingbewegungen den Ball auf dem Schläger zu halten. Einer Frau gelingt es, das ist wohl die Trainerin, der anderen Frau fällt der Ball dauern runter.
Ich gehe unter großen Bäumen eine alleeartige Straße entlang. Auf einmal kommt wie aus dem Nichts ein Zirpen aus einem Baum, verstärkt sich die und wird fast tösend laut für einige Sekunden. Hier müssen Hunderte von Grillen ihre Musik machen. Und ohne erkennbaren Grund ebbt die Musik wieder ab und auf einmal herrscht wieder gespenstische Ruhe. Bis kurze Zeit danach die nächste Musikwelle zu hören ist. Faszinierend.
Sonnenschirme gehören hier zum täglichen Stadtbild. Viele Frauen tragen Schirme zum Schutz der Sonne bzw. als mobilen Schattenspender, gelegentlich auch Männer oder sie werden von Mofafahrern gehalten. Und wenn ein Regenschauer einsetzt, erfüllen die Schirme natürlich auch ihren Zweck. Schirme sind hier also die täglichen Begleiter, alle mit der typischen Knirps-Falttechnik ausgestattet. Es gibt hier sogar Schirmeinpackmaschinen, die an Eingängen aufgestellt werden und einen nassen Schirm ohne nasse Hände mit einer Plastikhülle versieht, der dann mit trockener Hand wie eine Tüte getragen werden kann. Eine Stadt der Schirme. Praktisch, dass eines der mitgebrachten Gastgeschenke ein Hamburg-Schirm ist.
Das Vormittagstraining verläuft sehr gut. Es sind wieder die starken Chinesen da. Wir stellen uns auf, und auch bei uns beginnt ein kleiner Wettbewerb um die besten Tische, d.h. auch die besten Gegner, sortiert nach Reihe 1-4. Aber auch die „schwächeren“ Tische bieten Gegner, die stark genug für uns sind. Und der Trainer bleibt auch in der Halle. Suwen hat sich beschwert, dass die starken Spieler gestern Nachmittag rausgelassen wurden. Der Trainer meint, wir würden nicht mit 6 Punkten Vorgabe gegen seine Leute gewinnen, wettet um 1.000 Yuan, immerhin rd. 130 EUR. Jetzt ist PatrickM gefordert. Nimmt er die Wette gegen die Nr. 1 der Chinesen an? Er kann entscheiden. Ich biete ihm an, denn Wetteinsatz auf unsere Gruppe aufzuteilen, dann aber auch den Wettgewinn. Patrick überlegt noch mal, weiß nicht so recht, ob es im Ernst gemeint war oder im Spaß.
Es wird viel auf einer Seite mit einer Übung oder auch frei gespielt, auf der anderen Seite nur Rückhand. Diesmal bekommt Malte eine Angriffsnoppe, tut sich am Anfang auch etwas schwer. Aber wir sind ja zum Lernen hier. Maarten bekommt einen Abwehrspieler, tauscht nach der Pause mit Michel. Bisher haben wir keine Übung gespielt, bei der ab einem bestimmten Ball freies Spiel ist. Die Kombination zwischen fester Reihenfolge mit Übergang ins freie Spiel scheinen die Chinesen nicht zu spielen. Es bedarf nicht des bei uns üblichen ständigen Kicks mit neuen Impulsen. Jeder von uns kann sich hier schnell anpassen. Es bedarf halt nur einer Trainingsumgebung, die dies herausfordert. Freie Übungen gibt es auch, z.B. Aufschlag + frei, ohne Zählen, der hängt sich in jeden Ball rein.
Die zwei bestellten Tenergy-Beläge für PatrickM werden geliefert. Sie sind hier genauso teuer wir bei uns. Wir haben auch nach Schuhen gefragt und haben jetzt eine Lösung. Es werden Schuhe in der Größe 45 geliefert, rund 1.000 km entfernt sind irgendwo noch welche auf Lager. Wir lassen sie kommen, das finanzielle Risiko ist überschaubar. Und faszinierend ist schon, dass man hier über so weite Distanz Schuhe bestellen kann.
Malte klagt noch immer über einen nicht ganz fest sitzenden Vorhandbelag. PatrickB macht heute wieder voll mit, wenngleich auch in der dritten Reihe. Nisse klagt plötzlich über einen zu kleinen linken Schuh, seine Füße sind wohl hier in China gewachsen. Wir bestellen auch gleich eine Schuhe der nächsten Größe zu Auswahl nach, sie sollen morgen geliefert werden.
Wir sind beim Mittagessen, im gewohnten Lokal. Neues Gericht: kleine gebratene Fische, kaum länger als 4 cm, im Ganzen. Und es schmeckt, mir zumindest. Und ein weiteres unbekanntes Gericht. Es sieht lecker aus, ich probiere gleich. „Was ist das“, fragt mich Nils. „Gebackene Regenwürmer“, antworte ich ruhig, „lecker – es ist eine Spezialität in dieser Gegend“. Nils guckt verunsichert, weiß nicht recht, ob ich es ernst meine oder nicht. Dabei neige ich doch gar nicht zu Scherzen. Todesmutig probiert er. Es ist doch etwas Fischiges – vermutlich gebackene Tintenfischtentakeln. Aber das sage ich Nils erst gar nicht.
Plötzlich schreit unser Geburtstagskind auf, spring von Stuhl um hüpft herum. Ein Freudentanz? Nein – Malte hat beim Versuch, von einem auf dem Drehteller enteilenden Gericht noch ein Stückchen abzubekommen, seine Wasserflasche umgeschüttet. Das allein wäre nicht so schlimm, wenn die Flasche nicht ausgerechnet auf die frisch nachgeschenkte heiße Teetasse gefallen wäre, die denn zielsicher in Richtung auf den Auslöser der Unruhe umfällt und ihren Inhalt tsunamiartig auf Maltes linke Hand und seinen Schoß ergießt. Da weiß man nicht, was mehr weh tut, die Hand oder die Schenkel. Das Personal holt eilig eine Salbe für Maltes stark gerötete Hand. Aber es gibt keinen echten Schaden.
Nach dem Mittagessen haben wir erstmals das den Saselern vertraute Power-Napping angesagt, eine Stunde wirklich schlafen. Das funktioniert prima, alle haben die Gelegenheit zur Erholung gesucht – so ist es richtig.
Das Nachmittagstraining verläuft gut. Es sind wieder alle guten Chinesen da. Es gibt weniger Feuchtigkeitsprobleme. Wir wechseln die Trikots zur Pause, nehmen ein Schweißhandtuch mit.
Leo trainiert heute wieder sehr gut. Er traut sich manchmal zu wenig zu, bedarf immer wieder der Ermutigung. Maarten trainiert sehr stabil, wird auch immer sicherer. Nisse ist immer voll dabei, soweit es im Moment seine Schuhe zulassen. Malte, Michel und Julian trainieren unauffällig, aber ebenso wirksam und intensiv wie die ganz Großen/Starken. Michael kann vom Training nicht genug bekommen. Er öffnet sich langsam für Technikkorrekturen, war bislang noch sehr verhaftet in den bislang erlernten Bewegungen. Langsam entwickeln alle Spieler ein Auge für Techniken und Technikunterschiede. Und Jonasz trainiert seine Hüftdrehung in der Vorhand, wird auch immer besser. Auch Jenni und Kristin belasten sich voll, sind jetzt am zweiten Tag bei allen Einheiten dabei.
Während des Abendessens schleichen Suwen und ich uns raus, holen in einer Konditorei direkt in der Nähe eine große vorbestellte Torte ab, mein Geburtstagsgeschenk für Malte. Es ist eine Sponge-Bob-Torte, sehr bunt, viereckig und witzig anzusehen, mit einem Schild „Happy Birthday Malte“ und einem 17-er-Kerzensymbol. Das Bedienungspersonal merkt erst vor Ort vom Geburtstag, lässt Malte aber gleich noch den lokalen Geburtstagsbrauch durchführen: Das Licht wird ausgeschaltet, Malte muss sich zwei Sachen wünschen, davon den ersten Wunsch laut sagen und dann die Kerzen ausblasen. Malte wünscht sich Gesundheit und ein langes Leben; den zweien Wunsch behält er für sich. Dann wird das Licht wieder angemacht. Malte schneidet seinen Geburtstagskuchen auf, jeder bekommt ein großes Stück. Es schmeckt sahnig-süß, mir schmeckt die Torte sehr gut.
Und flugs sind zwei weitere Speisen vom Hause spendiert auf dem Tisch, zwei Töpfe Nudelsuppe mit Spaghetti-Nudeln und zwei Spiegeleiern oben drauf. Das Geburtstagskind muss die Nudeln aus einem Topf ohne Abbeißen essen – was regelmäßig ein lustiger Spaß wird -, der andere Topf ist für die anderen Geburtstagsgäste reserviert.
Für den Abend ist Massage im Angebot. Malte, Nisse, Maarten und Michel gehen gemeinsam. Die Massage ist im selben Hotel, alle vier sind in einem Raum auf je einem großen überdimensionalen Bett, werden von vorn und von hinten von freundlichen Chinesinnen bekniet. Joel ist auch dabei, sagt den Masseusinnen in chinesisch, dass die vier es hart lieben mit Schmerzen. Und entsprechend handeln die Damen dann auch. 60 Minuten kneten, klatschen, ziehen, dehnen und drehen, für rund 12 Euro. Danach sind die vier recht fertig, wollen nur noch schafen.
Für die anderen bieten wir noch eine dritte Einheit an, privat in der Halle ohne Chinesen. Nils, Michi, Jonasz und alle drei Bienerts nehmen teil, ich gehe mit. Wir machen noch etwas Ballkiste, Thomas spielt an einem Tisch ein, ich am anderen. Es ist sehr warm, wir machen einige Durchgänge, arbeiten an einigen technischen Details. Kristin rutscht am Ende noch auch, holt sich eine Zerrung. Jenni war schon am Nachmittag in einer Spalte des ungeklebten grünen Teppichs hängen geblieben, hier bahnt sich eine Schwellung an.
Abends ist immer Wäschewechsel. Das ist immer lustig. Von rund 20 Leuten wird die gewaschene Wäsche in zwei Müllbeuteln gebracht. Dann muss Leos Bett herhalten, es liegt am zentralsten. Die Wäsche wird ausgekippt und 5-10 Spieler stehen gleichzeitig ums Bett herum und wühlen in der bunt gemischten frischen Wäsche aus T-Shirts, Sport- und Unterhosen und Handtüchern – ein schönes Bild! Jonasz nimmt sich das Trikot, auf dem hinten groß der Name von Philipp prangt. So langsam durchmischt sich die Wäsche, aber egal.
Wir machen noch eine Abendbesprechung, bei Malte und Leo. Auf dem Schreibtisch liegen zahlreiche Visitenkarten mit den Bildern der Escort-Ladies, aufgereiht wie eine Briefmarkensammlung. PatrickB meint, er hätte immer schon unter der angegebenen Nummer angerufen, aber es sei immer besetzt. Michel holt seine eingekauften Drachenfrüchte heraus und nascht noch ein bisschen. Ob er zu Hause auch Obst einkauft?
Alle wollen schnell ins Bett, sind müde. Das ist gut. Malte stöhnt: „Was für ein Geburtstag“ und schläft ein. Und morgen haben wir unseren offiziellen Empfang bei der Ausländerbehörde, im Rahmen eines Mittagessens.