Michi ist weg

Wir haben die erste volle Nacht in Changsha hinter uns. Ich wecke alle telefonisch. Da wir heute alle in Einzelzimmern übernachtet haben, bedeutet das rund 12 Telefonate. Michael nimmt nicht ab, er hört es sicher nicht. Und auch von Jonasz keine Antwort. Die anderen melden sich wenigstens verschlafen.
Zum Frühstück taucht Jonasz dann auf, von Michi noch immer keine Spur. Alle wirken recht verschlafen, die nächtliche Reise nach Changsha ist wohl noch nicht verdaut. Ich forsche nach Michis Verbleib. Auch klopfen an der Zimmertüre führt nicht zum Erfolg. Wir lassen sein Zimmer öffnen, es sieht unbewohnt aus. Wo ist Michi?
Ich werde etwas nervös, frage die anderen und komme mir vor wie ein Detektiv. Eigentlich kann ja nicht viel passiert sein. Wo war er gestern abend und wer hat ihn zuletzt lebend gesehen? Keiner sagt so recht etwas. Mit Mühe rekonstruiere ich den gestrigen Abend. Michi und Jonas waren bei Nils im Zimmer. Es hat dann wohl länger gedauert, Michi und Jonasz sind bei Nils eingeschlafen. So langsam kommt es raus, alle drei haben bis 5 Uhr morgens noch über W-Lan gechattet und sind dann irgendwann bei Nils eingeschlafen. Michi liegt noch immer in Nils Zimmer. Kein Wunder, nach 2 Stunden Schlaf. Und wir sollen jetzt zum Training. Ich bin wenig begeistert, versuche es sportlich zu sehen. Entweder sie halten den Tag durch und dann habe sie bewiesen, dass sie es können, oder sie haben verspielt.
PatrickB hat es etwas erwischt. Der Weg mit den tropfnassen Trikot von der Halle ins Hotel in der kühlen Nacht ist ihm nicht gut bekommen. Er hatte eine schlechte Nacht und hat eine Paracetamol genommen, geht nicht mal zum Frühstück aus dem Bett. Patrick will heute zu Hause bleiben.
Wir kommen wegen der Verwirrung um die durchgemachte Nacht verspätet zum Training. Dabei sollen heute die Chinesen kommen. Wie peinlich. Aber die Chinesen kommen noch später.
Wir spielen uns ein. Es gibt Verkehrsprobleme, heißt es. Nach 30 Minuten sind noch immer keine Chinesen in Sicht. Der Cheftrainer schwenkt um, lässt wieder Balleimertraining spielen. Die Zuspielchinesen sind praktischer Weise auch da, nur die Oma fehlt. Wie schade. Ich erfahre, die Oma ist nicht rund 55 Jahre alt, sondern bereits 72 Jahre alt. Respekt! – Und dabei scheucht sie unsere Jugendlichen wie keine Zweite.
Die Balleimerzyklen sind hart. Es wird aus großen Schalen gespielt, die bei uns wohl kaum in den Netzschrank passen würden. Maarten und Nisse haben mal durchgezählt, rund 175 Bälle passen in eine gehäufte Schale und wenn man nicht aufpasst, werden einem auch 1 ½ Schalen zugespielt bis zum Wechsel. Michel erinnert sich an das Balleimer-Seminar vom HTTV: „Nie mehr als 7 Bälle in Folge einspielen“, zitiert er, „spätestens dann etwas Pause“. Wir ahnen, weshalb die Chinesen so stark sind. Aber es wird auch mit einem hohen Aufwand erreicht, ca. 1 Trainer auf 4-6 Spieler.
Wir werden zu leichten Korrekturen der Topspintechnik angehalten, versuchen die Topspins mehr mit langen Arm zu spielen. Es macht Spaß und bringt viel. Nils, Michi und Jonasz halten erstaunlich gut durch, trotz der sehr kurzen Nacht.
Mittags ziehen wir wieder aus den Einzelzimmern um in die Doppelzimmer. Ich habe auch endlich ein schwaches W-Lan im Zimmer und kann meine Mails leichter versenden. Alle Zimmer liegen jetzt in einer Ecke unmittelbar nebeneinander, im 6. Stock, das ist praktisch. Wir gehen zum gewohnten Mittagessen, heute gib es Hühnerfüße und Krabben und gebratene Pfifferlinge, sehr lecker! Man muss aufpassen, in vielen Gerichten ist hier und da mal ein Stückchen Chilischote dabei. Hat man es erwischt, kann das mildestes Essen schnell mal zum Höllenritt werden. Wir machen uns einen Spaß, wer traut sich ein Stückchen Chilischote zu zerkauen. Es entwickelt sich ein Wettbewerb, aber die meisten trauen sich und schaffen es auch. Wer es nicht gewohnt ist, der fängt erst an zu Husten oder es tränen die Augen. Es brennt im ganzen Rachenraum. Man versucht mit offenem Mund Linderung zu erlangen. Der Griff zum Wasser bringt gar nichts, scheint es eher noch zu verstärken. Am besten ist noch ein Dampfbrötchen hinterher. Aber einige schaffen es auch so und wirken gelassen.
Die Mittagspause nutze ich zur Geldbeschaffung. Morgen wollen wir einen Ausflug machen, da geben wir sicherlich Geld aus. Da der Umtausch von Euro hier so schwierig ist, will ich mit meiner Kreditkarte abheben. An vielen Bankautomaten klebt das Visa-Zeichen, auch bei der Bank of China direkt gegenüber dem Hotel. Das sollte also kein Problem sein. Falsch gedacht. Der Automat frisst zwar meine Karte, liefert mir aber nur einen Bildschirm mit einem Auswahlmenü voller chinesischer Zeichen. Keine Flaggen, kein englischer Text, keine für mich lesbaren Symbole. Die Abbruch-Taste zeigt keine Wirkung. Ich bin etwas beunruhigt. Nach längerem Studium des Bildschirms entdecke ich ein Symbol, das wie eine Kartenrückgabe aussieht. Ich drücke drauf und tatsächlich, meine Karte wird wieder ausgespuckt. Bei der China Commercial Bank gegenüber geht es plötzlich. Ich gelange mit drei Tasten in ein deutschsprachiges Menü und habe in einer Minute 2.000 Yuan in den Händen. Schon sehr praktisch, so ein Geldautomat. Ich freue mich über die Internationalität dieser Bank. Mal sehen, wie viel mir Visa für den Spaß abknöpft.
Jonasz sagt, die Schulter tut ihm weh, er will einen halben Tag Pause machen. Ich glaube, es sind eher die Folgen der kurzen Nacht. Dann bleibt er halt im Hotel.
Die Chinesen kommen dann doch noch zum Nachmittagstraining. Es gab wohl untereinander ein Kommunikationsproblem, daher die Verspätung. Aber jetzt sind sie da. Es sind Spieler und Spielerinnen im Alter von ca. 16-25 Jahre, alles Studenten aus der Universität von Changsha. Die stärkste Spielerin ist Universitätsmeisterin von ganz China.
Es ist ein heißer und schwüler Tag. Die Spieler schwitzen um die Wette. Bei uns bleibt kein Stück Textil trocken. PatrickM läuft der Schweiß schon so heftig am Körper runter, dass seine Schuhe von
innen nass werden, er schon im Wasser zu stehen scheint. Und tatsächlich, bei manchen Bewegungen hinterlässt Patrick schon einen Schuhabdruck, der auf dem Parkett gefährlich rutschig ist. Viele unserer Spieler legen sich bei schnellen Drehungen mal unvermittelt auf den Boden, Nisse wird fast in den Spagat gezwungen. Ich frage nach einem Besen, ein großer Wischmob wird geholt.
Beim Kaisertisch-Spiel kommt es so weit, dass ein Chinese schon immer PatrickM hinterher wischt, weil diese Stelle nachher nicht mehr bespielbar ist. Patrick beschwert sich bei uns über die Spierbedingungen. „Ich frage mich bloß, wer hier so schwitzt von euch?“ Am Ende setzen sich alle erschöpft auf die Bank. Unter Patrick bildet sich eine Lache, ihm läuft im Sitzen das Wasser aus der Hose, so heiß ist es.
Das Abendprogramm ist frei. Wir gehen ein bisschen ums Hotel herum. Es sind immer Leute auf der Straße, die Geschäfte haben jeden Tag bis 22.00 Uhr auf, auch am Wochenende. Der Bürgersteig ist uneben und wird auch gern von Mofas und Motorrädern genutzt. Aber alles läuft friedlich und locker ab. Wir gehen in den Supermarkt, holen uns Wasser, Cola, Süßigkeiten oder kleine Dinge des täglichen Bedarfs. Abends sitzen wir noch in kleineren Gruppen zusammen, schauen gemeinsam den chinesischen Sportkanal. Malte, Leo, Michel, Julian, Maarten und Nisse spielen auch gern mal Karten. Abends kommt noch die Wäsche zurück und neue Wäsche wird abgegeben. Alle beugen sich um Suwens Bett und versuchen, ihre eigene Wäsche wieder zu finden.
In unserer Abendbesprechung kritisiere ich das nächtliche 5-Uhr-Aufbleiben einiger Spieler. Aber immerhin, Nils und Michi haben gut durchgehalten. Das nötigt mir echten Respekt ab, beide müssen jetzt wohl ziemlich müde sein. Jonasz hat nicht durchgehalten, musste gar einen Nachmittag aussetzen. Schön dumm. Jonasz meint, dass er daraus lernen würde.
Leider kommt es anders, aber davon morgen.

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