Es ist Sonntag, heute ist TT-frei und wir wollen einen Ausflug machen. Ich wecke alle telefonisch gegen 7.30 Uhr. Michi und Jonasz sind nicht zu wecken. Sie nehmen zwar den Hörer auf, aber es scheint, als wenn sie den Hörer nur daneben legen, um das Klingeln zu vermeiden. Irgendwie fühle ich mich an gestern erinnert, nur vermute ich, dass beide zumindest in ihrem Zimmer sind. Ich versuche, die beiden durch Klopfen an die Zimmertüre zu wecken. Keine Antwort. Nur Malte und Leo im Nebenzimmer machen die Türe auf und fragen, wer da so laut klopft. Ich bin ratlos. Haben denn beide nichts gelernt oder interessiert sie das Ganze nicht? Um 9.00 Uhr steht der Bus vor dem Hotel und wir wollen losfahren. Ich beschließe, erst einmal zum Frühstück zu gehen.
Suwen ist schon beim Frühstück. Sie beklagt sich, dass es so laut war in dieser Nacht. Ihr Zimmer liegt direkt neben dem Zimmer von PatrickM und Nils. Suwen hat kaum schlafen können und um 2 Uhr nachts ist die Hotel-Securitate gekommen und hat bei ihr ans Zimmer geklopft und sich beklagt, dass es in Zimmer von Patrick und Nils so laut ist. Noch eine Baustelle.
Ich stelle Patrick und Nils zur Rede, erzähle ihnen, was Suwen berichtet hat. Wer war so laut gestern? Nils winkt ab, er sei als erster eingeschlafen und habe nichts mitbekommen. Patrick winkt auch ab, er sei auch eingeschlafen, die anderen wären so laut gewesen. Welche anderen denn noch? Wer war denn noch so im Zimmer nachts um 2 Uhr? Ich frage nach. Michi, Jonasz und Kristin waren noch im Zimmer, erfahre ich. Es hat wohl bis 2 oder 3 Uhr gedauert. Langsam wird mir klar, weshalb Michi und Jonasz nicht aus dem Bett kommen.
Nils haben sie etwas zugesetzt heute Nacht, die typischen Jugendherbergsspäße mit Zahnpasta und Nassmachen usw. Ist eigentlich keine tolle Leistung, einen Schlafenden für einen Schabernack herzunehmen. Kurze Zeit später kursieren schon die ersten Fotos in deutschen Netzwerken, meint PatrickM, er hätte schon über 500 Likes darauf bekommen – mehr als er Freunde hat. Hoffentlich war es ein Scherz. Nils nimmt es gelassen.
Ich bin sauer. Nicht weil einige nachts lange auf waren, wir haben ja keinen Trainingstag vor uns. Und auch nicht, weil sie irgendwelche Scherze gemacht haben. Sondern weil einige ohne Rücksicht anderen ihre Nachtruhe nicht lassen können und dann selbst noch nicht mal mit dem Hintern hochkommen, wenn es los geht.
In 15 Minuten wollen wir starten, Jonasz erscheint in der Zimmertüre. Ich gehe zu Jonasz und Michi ins Zimmer, raste mal für fünf Minuten aus und hoffe, dass beide den Schuss gehört haben.
Wir besteigen den Bus. Unser Dream-Team Michi und Jonasz kommt rechtzeitig, wenn auch ohne Frühstück dazu. Wir fahren los. Es ist ein sonniger und heißer Tag vorhergesagt. Wir entscheiden uns, erst einige Besichtigungen vorzunehmen, dann zum Tischtennis-Shop zu fahren. Michelle stellt sich als unsere Reiseführerin vor, eine junge Chinesin, die uns in flüssigem Englisch unterweist.
Unsere erste Station ist der Yue Lu Mountain, ein Berg, an dessen Hügel eine der ersten Universitäten Chinas gegründet wurde. Die Universität ist rund 1.000 Jahre alt, heute nicht mehr im aktiven Betrieb, sondern wird nur in ihren historischen Bauten unterhalten. Universitäten wurden früher immer an Berghügel gebaut, so erfahre ich, weil man dort die Ruhe zum Lesen findet. Die Universität ist in eine Parklandschaft eingebettet und ist jetzt eine Ausflugszone, in der man weitläufig spazieren gehen kann. Die Seilbahn am Berg nutzen wir nicht, kaufen uns stattdessen einige Andenken. Auf dem Rückweg zum Bus kommt uns auf dünnen Beinen langsam ein alter Mann entgegen, der mit einem Topf im Geld bittet. Michi hat ein gutes Herz, er legt dem Mann einen kleinen Schein in den Topf und erhält eine große Dankesgeste.
Die nächste Station ist die Tangerine Orange Island (Mandarineninsel). Es handelt sich dabei um eine ca. 2 km lange, aber nur rund 200 m breite Insel auf einem der vier Hauptflüsse von Changsha. Wir steigen um vom Bus in die Inselbahn, einen offenen Wagen, der immer im Kreisverkehr an der Inselpromenade entlang fährt. Von der Insel aus hat man ein tolles Panorama auf die Skyline von Changsha, die durch viele hohe Gebäude, manche vielleicht 50 Stockwerke hoch, gekennzeichnet ist. In der Mitte der Insel sind weitläufige Parkanlagen. Viele Chinesen nutzen den Sonntag für Ausflüge und machen ein Picknick. Es sind auffallend viele Hochzeitsgesellschaften dort, die im kleinen Kreis feiern, die Braut im weißen Hochzeitskleid, der Bräutigam trotz sengender Hitze im dunklen Anzug.
Wir halten an der Inselspitze, mit Blickrichtung zur Innenstadt. Eine hohe weiße Steinklotz erhebt sich vor uns. Wir gehen mit dem Besucherstrom zur Promenade, sehen den Steinklotz von der anderen Seite, vom Wasser aus. Auf einem rund 20 Meter hohen, künstlich mit Steinblöcken aufgehäuften Felsgrund ist ein noch höherer ebenfalls aus Steinblöcken geschlagener Kopf zu sehen, alles in weißem Stein. Es ist das Bild des jungen Mao Tse Tung, im Alter von 32 Jahren, daher auch 32 Meter hoch. Sehr beeindruckend. Mao stand rund 30 Jahre an der Spitze Chinas. Er genießt in China hohes Ansehen, meint Suwen. Zurück geht es mit der Inselbahn zum Bus. Die Inselbahn ist nicht für Personen von europäischer Größe gemacht. Malte stößt sich beim Verlassen mächtig den Kopf.
Dann fahren wir in ein Lokal, zum Mittagessen. Auch hier gibt es wieder neue Gerichte, aber auch viel bekanntes. Changsha ist im Sommer nicht nur für seine Hitze, sondern auch für sein scharfes Essen bekannt. Es wird mit viel Chili gekocht. Den Grund liefert uns Michelle. Weil es im Winter hier oft sehr kalt ist, sogar manchmal schneit, wollen sich die Einwohner mit Chili und scharfen Gewürzen innerlich erwärmen.
Wir werden mutiger mit dem Essen, auch wenn es noch einige Angsthasen gibt. Schön dumm, wenn sie nicht zumindest von den vielen Sachen probieren. Es gibt hier so viele unterschiedliche Geschmacksrichtungen und Kombinationen, dagegen kommt mir die deutsche Küche immer wie phantasieloses Einheitsessen vor. Keine Spur von Systemgastronomie, dafür tolle Dekorationen und viele Variationen. Und zum Schluss gibt es noch eine Show-Einlage. Zwei Gesellschaften sind offenbar in Streit geraten, zwei Männer gehen unter heftigem Wortwechsel fast aufeinander los. Deren Frauen versuchen, die Männer zurück zu halten. Sie schwanken zwischen zuschlagen und sich gerade noch zurückhalten, offenbar ist es auch hier nicht einfach, gesichtswahrend aus so einer Situation rauszukommen, wenn man sich einmal in Rage geredet hat. Und das Publikum steht drum herum. Wie schön – auch in China ist es wohl menschlich, bei einem Streit gern mal zuzuschauen, wie sich die Sache entwickelt. Das Personal eilt hinzu, bittet die Gesellschaft zu gehen.
Unsere nächste Station ist der Tischtennis-Shop. Es ist der größte von Changsha, vielleicht doppelt so groß wie der Contra-Store in Eilbeck. Wir kaufen zahlreiche Trikots. Ich muss einen Hunderter nach dem anderen rausrücken. Zum Glück hatte ich gestern Geld umgetauscht. Und wir suchen nach einem zweiten Paar Schuhe für PatrickM, zum Wechseln, wegen der Feuchtigkeit hier. Mit Schuhgröße 45 ist das ein hoffnungsloses Unterfangen, lernen wir. Der Shop hat gar keine Schuhe in der Größe, schon gar nicht Schuhe, die Patrick noch gefallen. Einige Shops weiter gibt es noch weitere t-shirts oder Trikots, für kleines Geld. Gut, dass wir nicht unser ganzes Geld in Chengdu ausgegeben haben.
Als letztes gehen wir noch auf den Flohmarkt. Es ist brütend heiß. In einer Straße sehen wir Stand an Stand, T-shirts in einer Region, Lebensmittel in einer anderen. Wir schauen in ein festes Gebäude, in den Keller. Eine ganze Etage mit rund 50 einzelnen Shops nur mit Schuhen. Wir versuchen, für Patrick Hallenschuhe in Größe 45 zu bekommen. Keine Chance! Auch nach der Rückkehr ins Hotel und dem Abendessen gehen wir noch in zwei fußläufig erreichbare Sportgeschäfte und suchen nach irgendwelchen Hallenschuhen für Patrick. Immer dasselbe Bild: Erst sind die Schuhverkäufer, die kein Englisch verstehen, überrascht und lachen sich schlapp über unser Ansinnen nach Schuhen, dann sind sie plötzlich verschwunden. Wir lernen: beim nächsten Mal muss jeder ein Paar Ersatzschuhe mitbringen. Wir sind enttäuscht und machen dafür Frusteinkäufe in Socken. 7 Paar für 10 Yuan ist der Rekord, das sind ca. 1,30 EUR für sieben Paar. Die Verkäuferin macht wohl jetzt die Hälfte ihres Tagesumsatzes.
Michi ist noch unausgelastet am Ende des sportfreien Tages. Er geht abends zum Laufen, auf die Sportanlage der Universität. Rund 200 Personen treiben sich dort noch herum, laufen selbst oder schauen einfach nur zu. Ein buntes Treiben. In der Dämmerung bleibt Michi völlig unauffällig, doch dann wird Flutlicht angemacht und alle schauen, was sich da für ein Ausländer unter die Chinesen gemischt hat.
Unsere Truppe hat unheimlich viel Spaß miteinander. Das merkt man besonders außerhalb der Halle. Jeder macht mal einen Spaß mit jedem anderen, aber alles im grünen Bereich – zumindest tagsüber. Und die Älteren bringen einen guten atmosphärischen Ausgleich rein, damit alles in geordneten Bahnen bleibt. Insofern bin ich hochzufrieden.
Wir machen noch eine Abendbesprechung. Der Tag war super, aber das ständige bis in die Puppen aufbleiben und dann Verschlafen von einigen Teilnehmern geht mir gehörig auf die Nerven. Ab jetzt gilt, dass jeder um spätestens Mitternacht in seinem Zimmer sein muss (zumindest die Jugendlichen) und das Dream-Team muss heute schon um 23.00 Uhr in die Kiste. Vielleicht sind sie morgen ausgeschlafener, da beginnt eine harte Trainingswoche. Und morgen sollen wir mit eine neuen Gruppe von Chinesen trainieren, stärker als die der letzten Woche. Mal sehen, ob dies wirklich so ist.