Shing-Shang-Shong

Wir stehen auf, es ist wieder ein schöner Tag. Wir haben Glück, denke ich, es gibt hier auch häufig Regen. Michi taucht nicht beim Frühstück auf, aber Jonasz meint, er hätte Michi geweckt.
Jenni, Kristin und Julian sind wieder fit und dabei. Malte hat eine Blase am großen Zeh, kann nicht so recht spielen, macht aber einen Teil der Zeit mit. Thomas hat es noch mit dem Magen, steigt gleich wieder aus. Hannes hat seit einigen Tagen eine kleine Entzündung im Ohr, bei körperlicher Belastung ist es unangenehm; er schaut haute Vormittag auch nur zu. Hannes macht sich heute Nachmittag bereits auf den Heimweg, er hat nur eine Woche kürzer gebucht als die Gruppe. Ich merke, dass wir körperlich stark belastet sind, die Pausenzeiten reichen gerade zur Mindestregeneration. Den Chinesen macht es nichts aus, sie sind es gewohnt.
Wir gehen schon in die Halle vor. Wo sind Jonasz und Michi? Jetzt fehlen beide. Ich bin mir sicher, dass beide gestern nach der Massage eingeschlafen sind wie die Steine. Ich gehe noch mal zum Hotel zurück, muss ohnehin noch eine Tablette für Maarten holen. Maarten hatte gestern abend über Schulterschmerzen geklagt. Jonasz kommt mir entgegen. Er hatte eine andere Abmarschzeit im Sinn, meint er. Nach einer Minute kommt mir Michi entgegen. Er meint, Jonasz hätte ihm gesagt, er könne noch eine halbe Stunde im Bett bleiben. Als ob wir um 7.30 Uhr Frühstück ansetzen würden um erst um 8.45 Uhr loszugehen. Die beiden entwickeln noch kein Störgefühl, dass irgendetwas nicht stimmen kann, stolpern daher immer in solche Situationen hinein.
Das Training ist wieder gut. Die Gruppe kennt sich schon langsam. Die Trainingsbelastung ist den Spieler aber anzumerken. Heute ist Donnerstag und wir haben seit Montag täglich vormittags und nachmittags trainiert, dürsten nach einer Abwechslung. Eigentlich wollten wir immer sonntags und mittwochs Pause machen. Gestern war Mittwoch, aber wir haben zwei Mal trainiert, weil wir nicht genau wussten, ob die starken Chinesen vielleicht nur bis Freitag verfügbar sind. Heute scheint es so zu sein, dass die Chinesen länger bleiben und sogar für vier Tage in unserem Hotel einquartiert werden und auch mit uns essen sollen. Da sieht es natürlich blöd aus, wenn wir Pause machen wollen. Ich weiß auch noch nicht recht, wie wir die Situation gut lösen können.
Wir gehen zum Mittagessen. Jullian, Nisse und Malte sind bei Essen immer etwas „krüsch“, wie der Hamburger zu sagen pflegt. Andere würden sagen: „Was der Bauer nicht kennt, frisst er nicht.“ „Nee, das mag ich nicht“, höre ich oft, wenn etwas Unbekanntes auf dem Tisch steht. Sie sind stolz auf ihre Meinung, verteidigen sie wehrhaft, bleiben lieber beim vertrauten Rührei oder beim Mantau, einem schlichten Dampfgebäck mit einer leckeren Vanillesoße. Ich finde es schade und frage mich, was sie später über das chinesische Essen sagen werden, das sie ja nur vom Hörensagen kennen. Ich wette schon mit Nisse um eine Cola, dass ihm bestimmte Sachen schmecken. Eine Cola habe ich schon verloren.
Hannes fliegt heute schon nach Hause, eine Woche früher als wir. Wir verabschieden ihn noch beim Mittagessen, wünschen eine gute Reise und tragen ihm auf, uns seine gute Rückkehr und eventuelle Schwierigkeiten beim Transfer nach Chengdu und nach Frankfurt per Mail mitzuteilen. In den letzten beiden Tagen sind wir auch auf uns allein angewiesen. Suwen will die Gelegenheit nutzen und am kommenden Dienstag abend mit ihren Kindern ihre Eltern zu besuchen, die einige Flugstunden entfernt in China wohnen.
Wir gehen nachmittags zum Training. Es fällt uns schwer, uns zum Training aufzuraffen. Aber wenn erst alle am Tisch stehen und mit den Chinesen Topspin gegen Topspin spielen, läuft es wieder. Malte hat noch immer Materialprobleme, der Vorhandbelag klebt nicht richtig, das nervt ihn. Aber wenn Malte im Hotel ist, richtet er sein Material nicht ordentlich, merkt immer erst in der Halle, dass etwas nicht stimmt. Ansonsten arbeitet Nils an seiner Schlägerhaltung, will sie leicht verändern.
Wer von euch kennt Shing-Shang-Shong? Dieses anspruchsvolle und hochintellektuelle Spiel, das an jedem Ort und zu jeder Zeit zu zweit ab 20 Sekunden bis zu 2 Stunden Spieldauer spielbar ist, erobert in den letzten Tagen den chinesischen Kulturraum. Die Chinesen schauen auch schon verwirrt. Ich bin nicht sicher, ob sie dieses komplizierte Spiel in so kurzer Zeit lernen können. Unsere Spieler spielen oftmals in diesem Spiel aus, wer zuerst duschen gehen darf oder es geht um andere Kleinigkeiten oder Wetteinsätze. Und meistens geht es auf drei Gewinnpunkte.
Auf dem Heimweg schlägt PatrickM seinem Zimmergenossen Nils eine Wette vor. Beide spielen gegeneinander, falls einer 0:3 verliert, darf er den ganzen Tag nicht duschen. Die Wahrscheinlichkeit liegt bei 12,5%, zumindest vor dem Spiel, dass es einen trifft. Und bei 75%, dass keiner 0:3 verliert. Und tatsächlich – Nils nutzt konsequent seine kleine Chance und verliert 0:3, darf heute nicht duschen. Herzlichen Glückwunsch! Nils rächt sich, zieht seine offenen Flip-Flops während des weiteren Abends an, wird aber bis zum nächsten Aufstehen durchhalten.
Beim Abendessen planen wir die nächsten Tage. Am Samstag wollen wir noch einen Ausflug machen, ebenso am kommenden Mittwoch, dem letzten Tag vor unserer Abreise. Dazwischen sind Trainingstage. Aber es ändert sich ja alles so schnell, darauf wetten würde ich nicht.
Abends gehen wir wieder zur Massage. Thomas, Julian und ich sind zusammen in einem Raum, Suwen und Kristin in einem anderen Raum. Und rein ins Vergnügen. Meine Masseuse heißt Yang Yu. Wir bekommen lustige lange Seidenpyjamas zum Anziehen, es wird Tee gereicht und Obst. Es geht los mit einer Fußwäsche, sicher ist sicher. Sie fängt mit dem Kopf an, massiert die Stirn, zieht mir die Ohren lang und geht so langsam von oben nach unten. Die Arme werden durchgewalkt, ich werde hochgezogen und wieder fallen gelassen. Sie tippt in die Übersetzungs-App ihres Handys etwas ein, zeigt es mir. „Comfortable“, steht auf dem Bildschirm, sie fragt, ob ich mich wohl fühle. Ich bejahe beherzt. Es scheinen kaum Ausländer hierher zu kommen, sie kann nur wenige Worte Englisch. Ich ertrage die weitere Prozedur mit Fassung, schließe die Augen und lasse mich in Gedanken fallen. Beim Friseur schlafe ich auch regelmäßig ein. Dann sind die Beine dran, von oben bis unten. Sie zieht und zupft an Beinen und Zehen, dreht und drückt, mit Händen und Füßen. Gut, dass ich es nicht sehe. Die harten Drehübungen, die Julian hat, lässt sie raus, ein erfreuliches Zugeständnis an mein Alter. Am Ende zieht sie mich noch in die Höhe, ich schwebe über dem Bett und hoffe, dass ich weich runter komme.
Abends ist wieder lustiger Wäschewechsel angesagt, ich bekomme alle meine Sachen zurück. Ich schreibe die Mail vom Vortag und freue mich, dass ich erstmals vor Mitternacht die Mail vom Vortag rausgeschickt habe. Die Investition in mein neues Ultra-Book hat sich voll gelohnt. Es ist leicht, ich kann es überall im Rucksack mitnehmen, und es hat ausreichend Energiereserven. Ich klappe es auf, und es ist sofort fertig zum Losschreiben, und ich kann es in jeder Sekunde einfach zusammenklappen. Genial.
Einige schauen am Abend noch Wimbledon Tennis, andere schlafen gleich ein. Wir sind gespannt auf das Turnier morgen gegen die Chinesen, jeder gegen jeden. Philipp und Nisse wetten schon, wer mehr Spiele gewinnt. Der Verlierer muss den anderen bei den Heimspielen der nächsten Halbserie verpflegen. Und so schlafen wir eine Tag entgegen, an dem sich unsere Pläne wieder ändern werden…

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